Im neuen Moskau

Präzision und Klangschönheit: In den nervtötend blauen Kulissen von Dimitri Tcherniakovs Inszenierung entdeckt Daniel Barenboim in Prokofjews „Der Spieler“ einen hörbar effektvoll und raffiniert geschliffenen musikalischen Edelstein

Ein Kaleidoskop plastisch und farbig instrumentierter Motive

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Mag sein, das neue Moskau sieht auf so lieblos billige Art teuer aus wie das Hotel, das Dimitri Tcherniakov auf die Bühne der Staatsoper gestellt hat. Blaue Wände, weiße Klubsessel, eine gläserne Drehtür. Verschiebt sich das Arrangement zur Seite, werden ebenso scheußliche Einzelkammern und Flure sichtbar. Hier also treffen sich die Süchtigen des Roulettes und tragen immer noch Abgründe dostojewskischer Seelen mit sich herum. Zu sehen ist nichts davon. Tcherniakov ist in seiner russischen Heimat ein vielgerühmter Regisseur, doch bei Sergej Prokofjews in Berlin überhaupt zum ersten Mal gespielter Oper „Der Spieler“ scheint ihn die szenische Fantasie verlassen zu haben. Drei Akte lang geschieht buchstäblich nichts in den nervtötend blauen Kulissen. Eine Handvoll Menschen jagen einem Glück hinterher, das sie nicht gewinnen können, schlagen sich die Zeit tot mit Liebesaffären, die auch nur eitle Selbsttäuschungen sind.

Erst im vierten, dem letzten Akt gewinnt dieses tiefgefrorene Theater Leben. Alexej, der unglücklich verliebte Hauslehrer im Dienste eines altersgeilen Generals und Erbschleichers, knackt die Spielbank, die jetzt zum ersten Mal auf der Bühne zu sehen ist, auf der nun ein halbes Dutzend Solisten und der Chor ein wild taumelndes Rondo der Geldgier aufführen. Doch der Rausch ist bald vorbei, in Alexejs Kammer kehrt die Langeweile des neuen Russland von Dimitri Tcherniakov zurück. Polina, die Geliebte, möchte sich, beleidigt vom schnöden Geld, mit dem sie der Spieler überhäuft, am liebsten aus dem Fenster stürzen. Aber es geht nicht, weil es sich nicht weit genug öffnen lässt …

Gäbe es nur das zu sehen, möchte man wohl auch die Flucht ergreifen. Doch diese Aufführung ist vor allem die Inszenierung von Daniel Barenboim, seiner Staatskapelle und von Sängern, deren Namen man sich unbedingt merken muss. Allen voran der ukrainische Tenor Misha Dydik in der Rolle des Alexej und seine Partnerin, die junge Lettin Kristina Opolais als Polina, dazu der prachtvolle russische Bass Vladimir Ognovenko als General und die Polin Stefania Toczyska in der Rolle der Alten Babulen’ka, die ihr Vermögen lieber selbst verspielt, als es den Heuchlern dieser feinen Gesellschaft zu vererben.

So bleibt man sitzen und ist manchmal sogar froh darüber, dass auf der Bühne nichts geschieht, was die Konzentration auf die Musik stört. Sie wird unter Barenboim zu einem Ereignis ganz eigener Art. Denn zweifellos ist Prokofjews Werk weder das, was man „große Oper“ nennen möchte, noch ein Dokument revolutionärer Moderne. Sie ist ein Kaleidoskop kontrastreicher, leicht fasslicher, plastisch und farbig instrumentierter Motive, deren einziger Zweck es ist, Dostojewskis Text singbar zu machen. Nicht auf das große Gefühl kam es an, sondern auf dramatisch wirkungsvolle Wiedergabe von Dialogen.

Barenboim nimmt diese Werkstatt ganz sachlich unter die Lupe und lässt mit schier unglaublicher Präzision und Klangschönheit all die Einzelteile erklingen, aus denen das Werk zusammengebaut ist, das man eher eine musikalische Skulptur nennen möchte als ein Stück des Musiktheaters: ein überaus effektvoll und raffiniert geschliffener Edelstein, der keine großen Auftritte zulässt, sondern von allen Mitwirkenden gleichermaßen verlangt, immer neue Aspekte des einen Themas zu zeigen, das allem zu Grunde liegt: die Selbsttäuschung des Menschen durch die Illusion seiner Gefühle.

Dankbar für so viel leidenschaftliche Sorgfalt nimmt man zu Kenntnis, dass unter Barenboims Händen ein vollkommen originelles, zu Unrecht aus den Spielplänen beinahe verschwundenes Meisterwerk wieder ins Bewusstsein geholt wird. Originell deswegen, weil ist es offenbar gerade nicht die notorische, psychologische Tiefe der literarischen Vorlage ist, die Prokofjew angeregt hat. Vielmehr scheint ihn ihre syntaktische Struktur fasziniert zu haben. Sie erzeugt in seiner Übersetzung des Romans in musikalische Deklamation eine seltsam kühle Distanz zu den menschlichen Tragödien, von denen sie handelt. Seine Musik lässt sie uns nicht mitfühlen, sondern auf unterhaltsame, gelegentlich komödiantische Art verstehen.

Mag sogar sein, dass Dimitri Tcherniakov in der Zusammenarbeit mit Barenboim gespürt hat, dass er dieses bei aller lautstarken Farbigkeit subtile Wunderwerk nicht durch allzu viel Theater stören sollte. Weil es so sein könnte, nimmt man ihm am Ende sein blaues Elend auf der Bühne nicht mehr übel. Es mag ein immerhin plausibler Reflex auf Prokofjews Reduktion des Gefühls auf musikalische Grammatik sein. Dass der verdiente, langanhaltende Applaus für Barenboim kaum nachließ, als auch der Regisseur an die Rampe trat, lässt immer darauf schließen, dass das Premierenpublikum es so sehen wollte.