Mit Schliff

Der Schweizer Stéphane Lambiel will bei der WM der Eiskunstläufer noch einmal als Balletttänzer überzeugen

„Es ist sehr speziell und schön, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren“

AUS GÖTEBORG DORIS HENKEL

Er liebt dieses Programm: Die viereinhalb Minuten seiner Kür, in denen er den Flamenco tanzt wie einer, der nie etwas anderes getan hat. Wenn er einen guten Tag hat, dann leuchtet dieses Programm selbst in kalten, funktionalen Eishallen wie das Polarlicht; schillernde Schönheit aus elektrisch geladener Energie – einer Kraft, die aus seinem Körper übers Eis zu den Zuschauen fließt und im besten Fall dann zu ihm zurück. Von allen leidenschaftlichen, eigenwilligen, ganz und gar besonderen Programmen, die der Schweizer in den vergangenen Jahren gezeigt hat, liegt ihm dieser Flamenco ganz besonders am Herzen. Doch nach zwei Jahren ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen. Samstag, wenn in der Kür die Entscheidung um den Weltmeistertitel fällt, dann wird Stéphane Lambiel den Tanz zum letzten Mal in einem Wettbewerb präsentieren.

Dem Publikum in aller Welt war es bisher egal, dass er diese Kür noch nie ganz sauber hingekriegt hat; die Wirkung hat darunter kaum gelitten. Aber er selbst will sich beweisen, dass es geht. Dass es möglich ist, Höchstschwierigkeiten wie den vierfachen Toeloop und den dreifachen Axel makellos mit atemberaubenden Schrittpassagen zu verbinden, ja mehr noch, das eine aus dem anderen entstehen zu lassen. Es ist unter anderem diese Fähigkeit, die gute von großartigen Eiskunstläufern unterscheidet, doch die haben es im modernen Wertungssystem definitiv schwerer als früher, weil die Vorschriften strenger sind. Die Kreativität wurde sozusagen in ein Korsett gesteckt, und das ist so ziemlich das einzige Kleidungsstück, mit dem sich der ansonsten ausgesprochen experimentierfreudige Schweizer überhaupt nicht anfreunden mag.

Die Vorschriften machen es schwerer, jenen traumhaften Zustand zu erreichen, den er in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung kürzlich so beschrieben hat: „Dein Körper weiß alleine, was er machen muss. Du bist nicht mehr da. Die Zeit läuft langsamer, und du siehst dir selbst wie von außen zu. Es ist sehr speziell und schön, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.“

Bei den beiden Weltmeistertiteln, die er bisher gewann, 2005 in Moskau und im Winter danach in Calgary, erlebte Stéphane Lambiel solche Momente im Meer der Endorphine. Im vergangenen Jahr, bei den Weltmeisterschaften in Tokio, hatte er nach einem Sturz beim dreifachen Axel im Kurzprogramm am Ende keine Chance auf den Weltmeister-Titel, aber für die aufregendste Kür des Abends belohnten ihn die Zuschauer mit einer Ovation.

Die leicht gestörte Beziehung zum dreifachen Axel war auch schuld daran, dass er vor ein paar Wochen bei den Europameisterschaften in Zagreb vom Tschechen Tomas Verner besiegt wurde. Und man darf gespannt sein, wie die Geschichte diesmal ausgehen wird. Wie andere Läufer auch war Lambiel mit der Qualität des Eises im Scandinavium nicht zufrieden.

Lambiel meinte, es sei brüchig, und bei den Sprüngen, die von der Kante abgesprungen werden, also Axel und Rittberger, habe er eben für diese Kanten kein Gefühl gehabt. Also entschloss er sich, die Kufen schleifen zu lassen, was, wie sein Trainer Peter Grütter erklärt, eine riskante Aktion war. „Ich habe die Kufen noch nie von jemandem schleifen lassen, den ich nicht kenne.“ Vom Schliff hängt vieles ab, und kein Gefühl für die Kanten zu haben, macht die Sache mit der Kombination von Kunst und Athletik nicht leichter.

Aber Lambiel lässt keinen Zweifel daran, dass er in Göteborg zum dritten Mal Weltmeister werden will. „Die Zuversicht ist da“, sagt er und streckt beide Hände aus, als wolle er danach greifen. Die Konkurrenten werden es wissen. Vor allem Daisuke Takahashi, der gute Chancen hat, als erster Japaner Weltmeister zu werden, der französische Titelverteidiger Brian Joubert und Europameister Tomas Verner.

Wäre Stéphane Lambiel nicht Eiskunstläufer, sondern Balletttänzer geworden, was bei dessen Leidenschaft für den Tanz ein naheliegender Gedanke ist, dann müsste er sich keine Sorgen darüber machen, nach viereinhalb großartigen Minuten vielleicht trotzdem nicht als Sieger dazustehen; auf der Bühne könnte er nach dem Auftritt im Beifall baden, und alles wäre gut. Aber auf die Frage, warum er nicht Tänzer geworden sei, hat er eine einleuchtende Antwort parat: „Da hätten mir die Gegner gefehlt.“ Und der Nervenkitzel des Wettbewerbs, der einen fertig, aber eben auch sehr glücklich machen kann.