Die Passion des Kommunisten

Mitleid behindert die revolutionäre Arbeit: Das war die Botschaft von Brechts Stück „Die Maßnahme“, dessen zynische Vernunft Heiner Müller später in „Mauser“ vorführte. An der Berliner Volksbühne wird beides zusammen halsbrecherisch vorgeturnt

Vielleicht sollte man einfach mal an die frische Luft gehen, statt immer nur auf Geschichte zu warten?

VON EVA BEHRENDT

Leutselig strahlt der Patriarch im Kreis seiner Lieben. Zum Schlussapplaus zieht Frank Castorf seine Koregisseurin, die Choreografin Meg Stuart, immer wieder mit vor an die Rampe, zerrt Winnie Böwe, die Eisler-Sängerin im hochgeschlitzten Seidenkleid, aus dem Volksbühnenchor hervor wie ein tüchtiges Zirkuspferdchen, umarmt den Schauspieler Hermann Beyer.

Dabei gibt es wenig Grund zur Freude. Die Passionsspiele, die Castorf pünktlich zu Ostern am Rosa-Luxemburg-Platz angesetzt hat, handeln von den dunkelsten Kapiteln linker Geschichte im 20. Jahrhundert. Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ von 1930 führt in durchaus propagandistischer Absicht vor, wie die Partei einen jungen Kommunisten liquidiert, weil sein Mitleid die revolutionäre Arbeit behindert. Vierzig Jahre später spitzt Heiner Müller Brechts Szenario in „Mauser“ zu. Der Henker A, der über der Arbeit des Tötens im Auftrag der Revolution verrückt geworden ist, soll jetzt, da nutzlos geworden, selber sterben. Damit ist er, anders als bei Brecht, nicht einverstanden: „Ich weigere mich. Mein Leben gehört mir.“ Der Chor sieht das anders: „Das Nichts ist dein Eigentum.“

Brechts radikale Effizienzgläubigkeit auf der einen, Müllers Zynismus der Vernunft auf der andern Seite: Wohin damit heute, in mitunter großspurigen und keineswegs ideologiefreien, aber alles in allem eher pathosarmen Beck- und Lafontaine-Zeiten? Wer so tief in den Keller des 20. Jahrhunderts hinabsteigt, runter zu den ganz harten Geschützen, muss eine Frage an die Geschichte haben. Oder zumindest eine große Sehnsucht nach ihr. Nachdem Castorf Geschichte zuletzt am liebsten aus der fragwürdigen Perspektive faschistischer Spinner betrachtete, setzt er nun mit der Brecht-Müller-Connection auf vergleichsweise klassisches Material.

Die „Maßnahme“ inszeniert er als erstaunlich ironiefreies Singspiel. Aus dem Orchestergraben schallert das Eisler-Orchester, und auf dem hölzernen Achterbahnabschnitt, den Thiago Bortolozzo diagonal über die Bühne gezimmert hat, turnen Jeanette Spassova, Hermann Beyer sowie die jungen Ensembleneulinge Sebastian König, Christoph Letkowski und Trystan Pütter als trashiges Propagandatrüppchen herum.

Der Einzige, der diese zwei Stunden währende Erbauungsübung kommentieren darf, ist Heiner Müller. „Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen“, zitiert Hermann Beyer aus einem Müller-Brief von 1977, „der Molotowcocktail ist das letzte bürgerliche Bildungserlebnis. Was bleibt: einsame Texte, die auf Geschichte warten.“ So wartet später auch Heiner mit seinen Jüngern auf weißen Plastegartenmöbeln, und immer wenn er doch eine Kriegsgeschichte aus „Mauser“ erzählt, zischen die Jungen genervt: „Mensch, Heiner!“

Dann platzt in diese ratlose Langeweile plötzlich Meg Stuart und zeigt mit ein paar Handgriffen, wie man „Mauser“ doch noch inszenieren kann. Fünf Tänzerinnen und Tänzer stehen auf, gehen in den Raum, introvertierte Typen, jeder für sich. Der Bassist Paul Lemp schlägt einen lauernden Rhythmus an, der später zu drängenden Schmerzlauten wird, auf den Videowänden erscheinen Bilder der Tänzer als gestylte Ikonen, mit Pali-Turban, Sonnenbrille und Gewehr, aufgenommen auf dem Dach der Volksbühne. Die Performer sprechen Müllersätze wie: „Je ne veux pas mourir“, „I made a mistake“ oder „Der Mensch ist keine Maschine“ in ein Mikrofon, drängeln dabei immer heftiger, bekämpfen, würgen, schlagen sich erbittert. Aus Sprache wird Bewegung, aus Gewalt Tanz. Für fünfzehn Minuten ist die Geschichte einer schrecklichen Ambivalenz zwar nicht verständlich, sieht aber gut aus und ist tatsächlich spürbar.

Zum Schluss mischen sich Castorfs Schrebergarten und Stuarts schicke Revoluzzer, deren Tötungspantomimen leider immer illustrativer geraten. Mehr als eine diffuse und wohlvertraute Bestandsaufnahme der Volksbühnenbefindlichkeit ist das nicht: Fragen gibt’s keine, Müllers Zynismus bleibt Status quo. „You can’t always get what you want“, heult die Gartenstuhl-Combo leise. Vielleicht sollte man einfach mal an die frische Luft gehen, statt immer nur auf Geschichte zu warten?