Leidenschaftliche Zuspitzungen

Was ist Mugham? Eine Antwort gab es beim Eröffnungsfestival des Kulturjahrs von Aserbaidschan. Dort sang der Virtuose Alim Gasimov kleine und kleinste Tonintervalle im bis auf den letzten Platz besetzten Französischen Dom

Das Unesco-Kulturerbe macht hierzulande nicht nur erfreuliche Schlagzeilen. Umso schöner, dass es neben den bekannten Listen mit Landschaften und Gebäuden auch das „Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes“ gibt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, kulturelle Meisterwerke zu schützen, die nur als Praxis existieren. Neben dem indischen Kutiyattam Sanskrit Theater oder dem traditionellen Holzhandwerk der Zafimaniry aus Madagaskar zählt seit dem Jahr 2003 auch die aserbaidschanische Improvisationsmusik Mugham zum kulturellen Artenschutz.

An der Richtigkeit dieser Entscheidung ließ das Mugham-Konzert im Französischen Dom während des Eröffnungsfestivals des Kulturjahrs von Aserbaidschan keinen Zweifel. Schon das Gedränge vor der Tür hatte deutlich gemacht: Hier ist nicht irgendein Konzert mit Weltmusik zu erwarten. Immerhin gab es mit Alim Gasimov den berühmtesten Mugham-Interpreten Aserbaidschans zu hören, mittlerweile einer der bekanntesten asiatischen Musiker überhaupt. Zu Beginn des Konzerts war kein freier Stuhl mehr zu sehen, einige Besucher mussten stehen.

„Mugham – Die Seele eines Volkes“, so der etwas rätselhafte Titel des Abends. Was hat es mit dieser Musik auf sich? Bei Mugham gibt es keine Noten, aber genaue Improvisationsregeln für Melodie und Rhythmus. Wie auch in anderen östlichen Musiktraditionen üblich, stehen nicht harmonische Abläufe im Vordergrund, wie man sie von der europäischen Musik gewohnt ist, sondern einzelne Töne, die in endlosen Variationen mit Ornamenten umspielt werden. Der Nuancenreichtum ist für Ohren, die sich an zwölf mehr oder minder statische Töne gewöhnt haben, nicht immer nachvollziehbar. Dennoch ist sofort zu hören, dass hier kleine und kleinste Tonintervalle verwendet werden, die man derzeit als „mikrotonal“ bezeichnet.

Das klingt fremd und faszinierend. Alim Gasimov, ein schlanker Mann Anfang fünfzig, singt mit heller Stimme bis in höchste Lagen. Die komplexe Melodieführung mit zum Teil atemberaubendem Tempo gibt seinem Gesang etwas Hochgespanntes, wie auch bei seiner Tochter Fargana, mit der er im Wechsel singt. Hier und da sind Anklänge an Obertongesang zu hören. Beide Sänger spielen ein tambourinartiges Schlaginstrument, begleitet werden sie von traditionellen Saiteninstrumenten wie Tar – einer Laute mit langem Hals – und Kamantscha, einer Geige mit kugelförmigem Bauch, sowie einer Klarinette.

Der ruhige Fluss der Musik wird immer wieder von dramatischen oder leidenschaftlichen Zuspitzungen punktiert. Gasimovs Stimme ist dabei so komplex, dass man verschiedene – und widersprüchliche – Emotionen zugleich zu vernehmen meint. Übersetzungen der Texte werden als Projektionen gezeigt, dem Verständnis dient dies allerdings nur bedingt. Sätze wie „Die Heimat ist Körper und Seele des Menschen“ oder die verschiedenen Anspielungen auf Islam und Christentum sind zumindest interpretationsbedürftig.

Mit dem Kulturjahr von Aserbaidschan in Deutschland, einer Initiative des Ministeriums für Kultur und Tourismus der Republik Aserbaidschan, soll die zwischen Russland und Iran am Kaspischen Meer gelegene Republik hierzulande bekannter gemacht werden. Dass zum Beispiel die Jazzmusikerin Aziza Mustafa Zadeh, die in ihrer Musik auch Einflüsse des Mugham verarbeitet, eine Aserbaidschanerin ist, dürfte nur echten Fans vertraut sein. Das Eröffnungsfestival am Wochenende war der Auftakt für eine Reihe von Veranstaltungen, die bis zum Ende des Jahres in verschiedenen deutschen Städten stattfinden werden. Mit Alim Gasimovs Konzert gab es einen ersten Höhepunkt des Programms, der allemal neugierig darauf macht, das Kulturland Aserbaidschan zu entdecken.

TIM CASPAR BOEHME

Das Kino Arsenal zeigt bis zum 8. April die Reihe „Filmland Aserbaidschan“