Im Daumenkino-Kino

Volker Gerling schießt mit seiner Kamera 36 Bilder in zwölf Sekunden. Die so entstehenden Daumenkinos lassen für einen kurzen Moment in die Seele der Abgebildeten blicken. Die Bilder werden im Eigenreich auf eine Leinwand projiziert und erzählen so von den Ursprüngen des Kinos

Jedes Kind kennt es: das Daumenkino. Die kleinen, linksgebundenen Bücher, deren Seiten man durch die Finger gleiten lässt und man so eine kurze Geschichte sieht. Das Daumenkino ist eine alte Kunstform zwischen Buch und Kino. Es ist der Betrachter selbst, der die Rezeptionsgeschwindigkeit bestimmt und so seinen eigenen Film kreiert.

Anders ist es bei Volker Gerlings Daumenkino-Kino. Er betritt die Bühne im Theater Eigenreich, stellt sich an ein kleines Pult vor eine Kinoleinwand und beginnt mit dem Abblättern des Daumenkinos „Junge am Kanal“. Das Abblättern wird über eine Kamera auf die Leinwand projiziert – und auf diese Weise zu Gerlings Daumenkino-Kino. Da hält ein kleiner, dicklicher Junge dem Auge der Kamera sekundenlang stand, verzieht keine Miene, blickt dem Publikum nur mürrisch und unbeteiligt entgegen. Irgendwann hält er es nicht mehr aus, hebt seinen Arm, wischt sich die Nase ab – und da ist es: Er strahlt stolz in die Kamera. Das Publikum lacht befreit mit.

Auf diese Weise legt Gerling das Prinzip Film beim Daumenkino auf der Bühne offen. Der Daumen fungiert als Projektor, der normalerweise im Kinoraum verborgen ist. Während der Vorstellung gibt Volker Gerling einen Einblick in die Geschichte seines künstlerischen Schaffens und erzählt von seinen Wanderschaften, die die Grundlage für die Vorstellung „Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt“ bilden. Zu Fuß wanderte er, nur mit Rucksack, einem Bauchladen und sechs Daumenkinos ausgestattet, insgesamt sieben Monate durch Deutschland und die Schweiz. Dabei lebte er ausschließlich vom Zeigen seiner Daumenkino-Wanderausstellung.

Herr Voigtänder hatte Gerling in Wannsee angesprochen, zu sich in die Wohnung eingeladen, ihm allerhand Persönliches gezeigt, ihn mit Essen versorgt und sich dann fotografieren lassen. Aus irgendeiner Pose wurde er spätestens durch das sehr häufige Klicken der Kamera „rausgerüttelt“. In 12 Sekunden macht die Kamera 36 Bilder. „Es entsteht garantiert immer eine unerwartete Bewegung, ein Lachen, ein ungekünstelter Moment, den ich im Daumenkino fixiere“, sagt Gerling. So blickt der Betrachter für Sekunden in die Seele eines Menschen. Es ist diese poetische Wahrhaftigkeit, die die Zuschauer für sich einnimmt. Diese lachen manchmal aus vollem Hals. Dann wieder herrscht konzentrierte Stille. „Schön, gell?“, raunt es irgendwo andächtig im Hintergrund, als der „Alte Mann mit Baseballmütze“ seinen Hut zieht und lächelt.

Während des sehr unterhaltsamen Abends berichtet Volker Gerling auch von den Reaktionen von Ausstellungsbesuchern, zeigt, immer auf die Leinwand projiziert, Fotos von sich und ihnen, erzählt lustige Anekdoten, die die Zuschauer zum Lachen bringen, und zeigt „Hinschmeiß-Daumenkinos“, also solche, die nie gebunden wurden und lose vor die Kamera geworfen werden. Nie wird bei seinen Erzählungen ein Modell bloßgestellt. Volker Gerling erzählt immer anerkennend und liebevoll. Als sei er jedes Mal wieder von Neuem erstaunt und begeistert von seinen Protagonisten. Er ist es wirklich. Er sei Medium zwischen Mensch und Mensch, sagt er.

Angefangen hatte alles mit den ersten Aufnahmen einer Freundin, die sich am Liepnitzsee hinter einem Baum verstecken und irgenwann wieder hervorlugen sollte. „Zugegebenermaßen nicht sehr einfallsreich“, gibt Gerling zu. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er, dass es ihm nicht um eine Inszenierung, sondern um die Dokumentation von Lebensmomenten geht. Nach der Vorstellung haben die meisten Zuschauer immer noch nicht genug. Sie kommen auf die Bühne und lassen die Kinos in Eigenzeit durch die Finger gleiten.

NINA ESSER

Die nächsten Vorstellungen sind vom 3. bis 5. 4., 20.30 Uhr im Eigenreich, Greifswalder Str. 212/213, 2. Hinterhof