Der Abschied kommt später

Peter Zadek inszeniert Pirandellos „Nackt“ am Hamburger St. Pauli Theater. Herausgekommen ist ein sehr privates Stück über das Scheitern und den Tod, das die Bühnenvorlage des italienischen Autors aber nicht zu fassen bekommt

Dieses konventionelle Schauspielertheater kann nicht das Abschiedsstück des 81-jährigen Regisseurs gewesen sein.

Von SIMONE KAEMPF

Beim Schlussapplaus kommt Peter Zadek auf die Bühne, eingehakt von Elisabeth Plessen, seiner Lebensgefährtin. Viel grauer und fahler als sonst, es ist nicht zu übersehen. Man erschrickt sofort. Jubelt man ihm jetzt zu oder sitzt man still und traurig da? Bedrückende Abschiedsstimmung liegt in der Luft. Wie noch unbefangen urteilen? Am Ende dieses Theaterabends ist man korrumpiert, die Tragik des echten Lebens holt die Kunst ein. Moral, Ästhetik, Spiel und Wirklichkeit geraten durcheinander.

Vorher schon, im letzten Monolog, nimmt Zadeks Inszenierung die Wendung ins sehr Persönliche. Es ist der Moment, wenn die von Annett Renneberg gespielte Ersilia, die inmitten der unterschiedlichen Männer in Pirandellos Komödie „Nackt“ vergeblich um ihre Rolle kämpft, in Richtung Publikum herausschleudert, sie habe im Leben nichts geschafft. „Nichts. Nackt sterben. Seid ihr zufrieden? Und jetzt geht, geht, geht.“ Nur noch in Ruhe sterben will sie, die sich wie alle Pirandello-Figuren in den Fallstricken von Schein und Wirklichkeit verheddert hat, und dafür mehr Anklage als Gelächter aufbringt.

Ganz vorn an der Rampe spricht Renneberg diese letzten Worte, kommt einem buchstäblich näher mit dem Tod. Der ganze Abend scheint nur auf diese letzten Szenen hinzuarbeiten, sie sind eine Kategorie für sich. Dieses „Und jetzt geht“ klingt einem im Ohr, aber löst nicht den Impuls des Gehens, sondern des trotzigen Bleibenwollens im St. Pauli Theater aus, in dem Zadek nach 2006 zum zweiten Mal inszeniert.

Denn was man an diesem Abend bis dahin gesehen hat, kann nicht das Abschiedsstück des 81-jährigen Regisseurs gewesen sein, als das es einem erscheint. Nicht dieses konventionelle Schauspielertheater, das sich zwei Stunden lang um verinnerlichtes Spiel müht, aber weit weg bleibt. Das versucht, Pirandellos Künstlerdrama getreu auf die Bühne zu bringen, aber den Irrsinn darin nicht aufzeigen kann.

Der gealterte Schriftsteller Ludovico Nota hat die junge Ersilia zu sich geholt, so die Ausgangssituation des Stücks. In einer Zeitungsmeldung las er von ihrem Schicksal: dass sie nach dem Tod des Kindes, das ihr anvertraut war, entlassen wurde und einen Selbstmordversuch beging. Jetzt will er über sie nicht nur einen Roman schreiben, sondern den Roman mit ihr leben und sie zu einer neuen Frau erfinden. Noch weitere Männer tauchen auf, die von Ersilia eigene Bilder im Kopf tragen: der Marineleutnant, der die Romanze mit ihr wieder aufnehmen will. Der Konsul Grotti, der mit ihr anbändelte, während im Nebenzimmer das Kind von der Terrasse stürzte.

Gespielt wird in einem Arbeitszimmer mit alten Möbeln, hohen Bücherregalen und Fransentischdecke. Bewusst altmodisch gehalten, es riecht nach Museum. Durch das Fenster rechts im Bühnenbild fällt sonniges Licht ein – wir sind schließlich in Bella Italia –, aber es wirft nur lange Schatten in das Arbeitszimmer. Von südländischer Leichtigkeit keine Spur.

Friedrich-Karl Praetorius spielt den Romancier Ludovico weniger mit dem Bohème-Charme eines gealterten Lebemanns als im nölenden Frageton eines Kommissars – anfangs trägt er noch Trenchcoat –, der Ersilias Geschichte auf den Grund kommen will. Zumindest ist er der Einzige, der Distanz zwischen Sprache und Rolle legt. Annett Renneberg als Ersilia bleibt immer Opfer, eine Frau, die sich per se schuldig fühlt und ständig außer Fassung gerät. Nikolai Kinski als Leutnant Laspiga verströmt schwärmerische Verliebtheit.

Jeder fahndet hier nach Antworten in dem Spiel verdrehter Tatsachen, falscher Erwartungen und wechselnder Schlussfolgerungen. Zadek lässt im Zuge der drei Akte das Ludovico’sche Arbeitszimmer leer räumen, als würde das den Blick frei machen. Doch wenn es Antworten gibt, dann muss man sie mühsam suchen in den Wortkaskaden, in denen die Figuren sich ihr Elend bereiten.

Redselig feilschen sie um die ungelebten Möglichkeiten und schwärmerischen Illusionen, flüchten sich dabei in Abstraktion wie in die Eruptionen des Gefühls. Reden sich um Kopf und Kragen und halten sich doch das Bild ihrer selbst vom Leib. Das gilt auch für die Inszenierung, die keinen Zugriff auf das Stück findet, auch wenn es am Ende sehr persönlich wird.

Nein, das war es nicht. Angekündigt ist, dass Zadek demnächst in Zürich inszenieren wird. Man kann also beruhigt sein: He will do it again.

Vorstellungen bis 29. April täglich außer montags 20 Uhr, sonntags 19 Uhr