berliner szenen Resektion und Liebe

Beim Zahnarzt (1)

Ich leide an einer minder ausgeprägten Form des Stockholm-Syndroms. Vielleicht befinde ich mich auch einfach nur in meiner Midlife-Crisis. Während andere in meinem Alter schon einiges vorzuweisen haben an Abschlüssen, Titeln und Weltumrundungen, habe ich es lediglich geschafft, meine Zähne aufzubrauchen. In den letzten Wochen musste ich zwei Wurzelbehandlungen, eine Wurzelspitzenresektion und zwei „Krönungen“ über mich ergehen lassen. Dabei habe ich mich in den Zahnarzt verliebt. Identifikation mit dem Aggressor nennt man das wohl.

Während er mit aller Kraft den Bohrer in meinen Mund drückt und mir versichert, dass der Knochen bald durch sei und er die Wurzel erreicht habe, versuche ich mir einzureden: Er will ja nur mein Bestes. Wenn er nach erfolgreicher Knochendurchbohrung und Wurzelkappung seine Hand beruhigend auf meine zitternde Schulter legt, spüre ich ein flatteriges Gefühl in der Brust. Auch sein kunstvolles Zunähen meines Zahnfleisches erwärmt mir das Herz. Männer, die so geschickt mit Nadel und Faden hantieren, üben einen ganz besonderen Reiz auf mich aus. Und krönt er mich nicht sogar, wer vor ihm hat das schon getan?

Als damals in Stockholm die entführten Bankangestellten sich beim Anrücken der Polizei schützend vor ihre Entführer stellten, verstand das niemand. Man entdeckte frühkindliche Hirnareale, die in lebensbedrohlichen Situationen aktiviert werden und eine Identifikation mit dem Angreifer bewirken. Eine Bankangestellte wollte ihren Entführer sogar heiraten. Ich verstehe das gut. Was bleibt einem schließlich anderes übrig. Man müsste ja sonst auf dem Zahnarztstuhl um sein Leben bangen. Da verliebt man sich doch lieber. SANDRA NIERMEYER