Schwärme organisieren

Vom hässlichen Entlein zum Schwan: Das Schauspiel Essen forscht in örtlichen Befindlichkeiten und sucht neue Modelle für postindustrielle Gesellschaften. Klassiker wie „Antigone“ werden dabei genauso zu Rate gezogen wie biografische Recherchen

VON CHRISTIAN RAKOW

Die Rolle des Platzhirschen markiert in der Innenstadt von Essen, in der die 70er-Jahre Stahlbeton-Moderne kräftig zugeschlagen hat, der futuristische Prachtbau des Aalto-Opernhauses. Das kleine, spätklassizistische Grillo-Theater mit seinem zartrosa Anstrich erscheint dagegen wie ein Pflänzchen in unwirtlichem Terrain. Drinnen, im intimen Hauptsaal, der mit 430 Plätzen kaum größer ist als andernorts die Kammerspiele, versteht man vollends, dass die jüngste Erfolgsgeschichte des Essener Schauspielhauses auch die Geschichte eines David ist, von dem niemand einen Wurf erwartete und der doch traf.

Seit Intendant Anselm Weber das Essener Schauspiel 2005 nach 13 eher behaglich provinziellen Jahren unter Jürgen Bosse übernahm, überschlägt sich die regionale Presse. Mehrfach wurde das Grillo zum Theater des Jahres in NRW gekürt. Zentrale Arbeiten wie Nuran Calis’ „Homestories“ (2006) oder David Böschs „Woyzeck“ (2007) reicht man als Vorschläge zum Berliner Theatertreffen weiter. Dass der Aufstieg in Essen mit Anlaufschwierigkeiten der neuen Intendanten in den benachbarten Renommierhäusern Bochum (Elmar Goerden) und Düsseldorf (Amélie Niermeyer) zusammenfiel, soll das Bild nicht trüben.

„In einer Stadt wie Essen ist eine Institution wie das Theater nicht selbstverständlich“, sagt Intendant Anselm Weber. Sozialarbeit dominiert die Stadtpolitik, man diskutiert den Stadionneubau für RWE. Für kulturelle Strahlkraft auch im Hinblick auf 2010, wenn Essen Kulturhauptstadt wird, sorgen die Oper, das Museum Folkwang oder die renovierten Industriestätten. Doch Weber schreckt die Kleinschreibung der dem Theater zugedachten Rolle nicht. Eine Beteiligung der städtischen Häuser am Festivaltanker Ruhrtriennale hat er gefordert und ist damit gleich einmal bei Festivalleiter Jürgen Flimm angeeckt. Spitzen gegen die Lokalpolitik, die regelmäßig den Etat zur Disposition stellt, verteilt Weber ohne Wimpernzucken. Und wenn sich der 44-jährige gebürtige Bayer analytisch streng über seine Vision von Stadttheater ausbreitet, weiß man, dass hier einer angetreten ist, sein Werk mit Selbstbewusstsein und Vehemenz durchzusetzen. Work hard, stand proud.

„Ich glaube, dass diese Region ein Verhältnis zu sich aufgebaut hat wie das hässliche Entlein“, sagt Weber. Und dieses Hässliche-Entlein-Syndrom will er nicht gelten lassen. Da liegt der Kern seines Erfolgs. Weber behandelt, bei allem Gespür für die örtlichen Befindlichkeiten, Essen stets als exemplarischen Fall. Es geht immer auch um das Land NRW, ja um den Zustand spätindustrieller Gesellschaften überhaupt. So erklärt sich auch der Reiz der „Stadterkundungsprojekte“, die einen Gutteil des aktuellen Interesses an Essen ausmachen.

Leben erzählen

Mit „Homestories“ hatte man noch das Besondere der Stadt befragt, den Zerfall in einen bürgerlichen Süden und die nördliche, multiethnische Peripherie in Katernberg. In dieser Spielzeit untersucht man unter dem Titel „Schwärme“, sozialtheoretisch bestens unterfüttert, spontane Organisationsformen in postnationalen Staaten. „Flüchtlinge im Ruhestand“, das Mitte März herausgekommene „Schwärme“-Projekt von Mirjam Strunk, behandelt Fragen der Asylsuche in der Manier von Rimini Protokoll. Auf der Bühne stehen Laienspieler aus Afrika, Asien, Osteuropa und der ehemaligen DDR, die mittlerweile im Ruhrgebiet leben. „Wenn du die Grenze überschreitest, leg deine Individualität ab, damit du dich besser assimilieren kannst“, lautet die Ausgangsthese. Da diese Theaterform aber auf das Bekenntnis zur eigenen Biografie abgestellt ist, darf der Abend schon per se als ihre Widerlegung gelten.

In lockerer Folge tragen die Akteure, ein Schwarm von Entwurzelten, ihre Fluchtgeschichten frontal vor, teilweise unterstützt von Overhead-Projektionen. Von ihrem Leben in Deutschland erfahren wir zwar zu wenig – auch hätte man sich Stimmen der Behörden für eine komplexere Sicht auf den Asylablauf gewünscht –, dennoch überzeugt der Abend ästhetisch durch die unaufgesetzte Haltung, mit der hier Theater abseits des dramatischen Kanons als Diskursort behauptet wird.

In der Nebenspielstätte „Casa“ feierte gerade Jan Neumanns bemerkenswertes Jugendstück „Schmelzpunkt“, die Geschichte einer verdrängten Schwangerschaft, seine Uraufführung. Zwar werden die Probleme etwas fett aufgetragen: Susa, 17, ist Scheidungskind, ihre Mutter hat Krebs, die Freundin will nur shoppen, die Jungs nur Sex, und als endlich ein sympathisch schüchterner Vertreter auftaucht, stellt der sich als schwul heraus. Konflikten weicht Susa regelmäßig aus, und so hat auch ihre Schwangerschaft keinen Platz in ihrer Vorstellungswelt bis zum Happy End mit Geburt, Einsicht und Adoptionsfreigabe.

Neumann entwickelt seinen Plot in einer bestechenden, jugendnahen Kunstsprache, die irgendwo zwischen Maulfaulheit und Großraumdiskotalk angesiedelt ist. „Kannst du leise sein?“ – „Wie leise?“ – „Leiseleise.“ – „Schon.“ – „Dann gehn wir zu mir.“ So wird hier jedwedes Thema wortkarg abgehandelt. Wie in eine Schutzschicht wickeln sich die Protagonisten in Coolness, tief darunter liegt der Schmelzpunkt ihrer Emotionen. Den jungen Akteuren unter der Regie von Henning Bock fällt es denn auch nicht leicht, den diffizilen Rhythmus der Dialoge aufzunehmen. Vieles bleibt hölzern oder kriegt zu viel Schub. Talent scheint gelegentlich auf, etwa bei Schauspielschülerin Marina Frenk als Susa, mehr noch nicht.

Glamour statt Politik

Den Jungen die Nebenbühne, dem Abo-Mittelstand das Haupthaus: Das ist oft der Stadttheaterkonsens, der Entwicklungen mehr behauptet als fördert. In Essen versucht man das anders. Am Grillo hat Weber eine inzwischen viel beachtete Nachwuchsoffensive ausgebaut. Mit einem jungen Ensemble und Machern um die 30 wird hier Klassik in neuen Regiehandschriften präsentiert. Webers Scouting nach Regisseuren, die ihr junges Publikum kennen, funktioniert. Roger Vontobel, Barbara Weber und Rafael Sanchez haben früh ihre Visitenkarten abgegeben. Und im bisherigen Hausregisseur David Bösch, der auch in den kommenden Spielzeiten, dann aber frei, je eine Arbeit am Grillo inszenieren wird, hat man einen der derzeit nachgefragtesten Newcomer verpflichtet.

Nach seiner düsteren Endzeitparabel des „Woyzeck“, in der sich die Gesellschaft zerfallen zeigt in marodierende Banden und Einzelgänger, packt Bösch mit Sophokles’ „Antigone“ seine Generation wieder direkter an: Wie steht es um die Rebellion der Jugend heute? In einem leeren, rot ausgelegten Bühnenraum (von Dirk Thiele), der hinten durch eine Videowand begrenzt ist, und wie stets mit erstklassigem, live eingespielten New-School-Gitarrenrock (von Karsten Riedel) nähert sich Bösch dem Mythos psychoanalytisch: Antigones Anarchismus wider den Staat Kreons erscheint als regressive Haltung einer mauligen Tochter (Sarah Viktoria Frick), die sich nicht von ihrer inzestuösen Bindung an die Familie abgespalten hat. Entsprechend lässt Bösch mit „König Ödipus“ von Sophokles eröffnen, und die Geschichte der opferbereiten Schwester wird durchweg tempotrunken von ihren toten Brüdern erzählt, inklusive der Botenberichte und der Seher-Episode, meisterhaft synchron gesprochen von Nicola Mastroberardino und Lukas Graser.

Es geht um die narzisstische Selbstmythisierung der rebels without a cause, die stets wissen, wogegen, nie wofür. Pophelden wie James Dean geben Antigone im Video ihre Rolle vor.

Da aber mit einer solchen Haltung zwar Glamour zu gewinnen, nicht aber eine neue Politaktivität zu formen ist, rückt zunehmend Kreons Fall in den Mittelpunkt. Holger Kunkel gibt ihn als unscheinbaren Mittelstandskerl, dem die Zügel entgleiten, ehe er schlussendlich mit offenem, verschwitztem Hemd als eigentlich leidende Kreatur die Sympathien abfasst. So wird das Stück zu der Tragödie eines prekären, scheiternden Ordnungsbegehrens. Womit denn die Spielzeitfrage nach Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens jenseits direkter staatlicher Lenkung vorläufig auf ihrem ästhetischen Höhepunkt angekommen ist. Institutionen brechen weg, aber die Schwärme müssen sich erst finden.