Steuerausfälle nach Karlsruher Urteil

Das Verfassungsgerichtsurteil zur Nichtbesteuerung von Krankenkassenbeiträgen könnte nicht nur zu hohen Einnahmeausfällen des Staates führen, sondern auch zu mehr Ungerechtigkeit. Neue Diskussion über Existenzminimum

VON BEATE WILLMS

Als habe Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) das Problem herbeigeunkt: Seit Wochen wehrt er sich gegen alle Forderungen von Opposition und Koalitionskollegen, das Abflauen der Konjunktur mit Steuersenkungen zu mildern. „Dafür ist kein Spielraum“, ließ er seinen Sprecher Torsten Albig wiederholt sagen. Nun muss Steinbrück mit neuen Steuerausfällen rechnen – in einer Höhe, die er wohl kaum vorhersehen konnte. Ab 2010 könnten ihm jährlich bis zu 13 Milliarden Euro fehlen.

Grund ist ein bislang kaum beachtetes Urteil vom 14. März. Darin entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zum Existenzminimum gehören und deshalb ab 2010 stärker bei der Besteuerung berücksichtigt werden müssen. Albig: „Jede weitere Steuersenkungsdebatte wird nun nicht leichter.“

Bislang können Privatversicherte bei ihrer Steuererklärung im Rahmen der Vorsorgepauschale bis zu 2.400 Euro Krankenkassenbeiträge geltend machen, für gesetzlich Versicherte sind es 1.500 Euro. Dagegen klagte ein selbstständiger Rechtsanwalt, der mit den Beiträgen für Ehefrau und seine sechs Kinder 1997 insgesamt 18.000 Euro an eine private Krankenkasse gezahlt hatte. Die Richter wiesen zwar darauf hin, dass das Finanzamt keine „Luxustarife“ anerkennen müsse. Die Absicherung gegen Krankheit und Pflegebedürftigkeit gehöre aber wie die Kosten für Lebenshaltung, Unterkunft und Heizung zu den „indisponiblen Bestandteilen“ des Einkommens und dürfe nicht noch besteuert werden. Bei der Höhe des Freibetrags könne sich die Bundesregierung an dem orientieren, was der Staat für die Krankenversicherung von Hartz-IV-Beziehern aufwendet.

Peter Gottfried vom Institut für angewandte Wirtschaftsforschung hat nun durchgerechnet, wie teuer es Bund, Länder und Gemeinden kommt, wenn 270, 340 oder 500 Euro steuerlich abgesetzt werden können. Und was ihnen entgeht, wenn die neuen Steuervergünstigungen nur für privat oder für alle Versicherten gälten. „Das sind zwischen 4,82 und 13 Milliarden Euro“, sagte er der taz. Wobei er es für „sehr unwahrscheinlich“ halte, dass Steinbrück eine Insellösung für die Privatversicherten anstrebe. „Da würde sich doch umgehend ein gesetzlich versicherter neuer Kläger finden.“

Experten bezweifeln allerdings, dass das Urteil zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führt, wenn die Kassenbeiträge künftig in solchen Höhen abgesetzt werden können. „Leute mit ganz niedrigen Einkommen oder kleine Beamte schöpfen die Vorsorgepauschale heute schon nicht aus“, sagt Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Besserverdienende profitierten dagegen davon, wenn sie ihre Bemessungsgrundlage künftig um die Versicherungsbeiträge verkleinern könnten. „Sie dürften diejenigen sein, die am meisten profitieren.“

Das missfällt auch dem Grünen-Steuerexperten Gerhard Schick. „Es läuft komplett unserer Idee zuwider, Ausnahmen bei der Besteuerung und die ungerechten Auswirkungen der Steuerprogression einzuschränken.“ Und die Linken-Steuerreferentin Daniela Trochowski kann dem Urteil nur einen positiven Aspekt abgewinnen: „Die Richter haben klar gemacht, dass das derzeitige steuerfreie Existenzminimum nicht ausreicht. Jetzt ist eine neue Debatte fällig.“