„Die Iraker haben das Chaos satt“

Fünf Jahre nach dem US-Krieg gegen den Irak ist die Lage noch immer desolat. Schuld sind vor allem die USA. Besser wird es nur, wenn die EU, Russland und Iran einbezogen werden, so der irakische Publizist Ghassan Atiyyah

GHASSAN ATIYYAH war früher irakischer Diplomat, 1984 verließ er den Irak und war in der irakischen Pro-Demokratie-Exilbewegung aktiv. Er kehrte nach dem Sturz Saddams nach Bagdad zurück. 2003 gründete er die Iraq Foundation for Development and Democracy in Bagdad, deren Chef er ist. Die Stiftung fördert den Dialog zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Entscheidungsträgern im Irak.

taz: Im Dezember 2002, drei Monate vor Beginn des Irakkrieges, haben Sie zusammen mit 30 anderen führenden irakischen Oppositionellen im Exil ein 100-seitiges Papier über den Übergang des Irak zur Demokratie veröffentlicht …

Ghassan Atiyyah: Ah, das, was das State Department angeschoben hatte?

Ah so?

Ja, ich war der stellvertretende Leiter der Gruppe. Die Studie war richtig dick. Jay Garner, der erste US-Verwalter im Irak, wurde, kurz nachdem er in Bagdad angefangen hatte, von der BBC gefragt, ob er denn die Studie kenne, die da im Auftrag des State Department ausgearbeitet worden sei. Er sagte Nein. Diese Studie, wie auch viele andere, wurden einfach in den Müll geschmissen. Ab dem Moment, in dem die USA den Irak besetzten, regierten sie allein und scherten sich einen Dreck darum, was wir dachten.

Das heißt, mit der Studie wollte man vor dem Krieg die Opposition in die Kriegsvorbereitungen einbinden, um dann …

Nein, nein, für mich war das durchaus ein sinnvoller Ansatz: Wenn man einen Gegner bekämpft, sollte man ihn kennen und eine Vision haben für die Zeit danach. Wenn ich damals gefragt wurde, warum ich mit den USA kooperierte, sagte ich meist: Weil Saddam keine Opposition zulässt.

Hofften Sie, vom Ausland aus Einfluss zu haben?

Keine Exilopposition irgendwo auf der Welt hat es schon einmal geschafft, ihr Land zu verändern – selbst Lenin musste erst mal in den deutschen Zug steigen und nach Russland zurück. Wir haben mit den USA gearbeitet, damit sie uns vor unserem eigenen Selbstzerstörungstrieb bewahren – und vor unseren Nachbarn.

Und, haben sie das?

Sie haben uns nicht vor uns selbst geschützt. Im Gegenteil. Sie haben uns in einer extrem spalterischen Weise behandelt: Sie haben uns nicht als Liberale, Konservative, Kommunisten oder was auch immer angesehen, sondern als Schiiten, Sunniten oder Kurden.

Wenn Sie die letzten fünf Jahre seither Revue passieren lassen: Was waren aus Ihrer Sicht die wesentlichen Fehler?

Man kann gar nicht nur von Fehlern sprechen: Es ist wie ein Experiment, wie man ein Land verliert, das man militärisch zu besetzen in der Lage ist; wie ein Handbuch zur Niederlage nach dem Sieg.

Und was waren die wichtigsten Kapitel?

Zuerst: Es war nicht so, dass nicht über die Zeit nach Saddam nachgedacht wurde, es gab sogar eine ganze Menge Überlegungen. Aber diejenigen, die dann tatsächlich die Politik machten, kamen nur aus dem Pentagon, und sie standen unter der Fuchtel der Neokonservativen wie Paul Wolfowitz. Die Verwalter, auch Paul Bremer, hatten überhaupt keine Ideen und Visionen für Irak. Sie setzten mangelhafte Konzepte um, und mehr noch: Ich hatte gehofft, sie würden ihre Rolle so verstehen, uns dabei zu helfen, uns selbst regieren zu können. Stattdessen regierten einfach sie. Wenn man aber erst mal regiert, sollte man darauf auch vorbereitet sein …

Was fehlte?

Ein politischer Ansatz. Sie haben die Armee aufgelöst, alle Baathisten verteufelt und alle Sunniten so behandelt, als wären sie kollektiv für die Verbrechen des Saddam-Regimes verantwortlich. Sie haben es wunderbar vermocht, Feinde zu schaffen und zu einen. Statt die Mittelklasse und säkulare Kräfte zu befördern, wurden genau die zu den Opfern der US-amerikanischen Politik.

Aber es gab doch einen demokratischen Prozess: Wahlen, eine neue Verfassung …

Die USA entschieden, dass Wahlen stattfinden sollten, und richteten sich dabei nach ihrem eigenen innenpolitischen Zeitplan. Aber Wahlen erfordern bestimmte Bedingungen, damit sie fair und frei ablaufen können. Im Irak lief es darauf hinaus, dass nur jene eine Chance auf Wahlerfolge hatten, die über Milizen und Geld verfügten. Damit beförderten die Wahlen die Spaltung des Landes entlang ethnisch-religiöser Linien – schlimmer hätte es nicht kommen können. Und wenn Sie sich die Verfassung ansehen – auch sie bestätigt das Konzept ethnisch-religiöser Spaltung. Die irakische Verfassung von 1925 war jedenfalls fortschrittlicher und beschrieb ein einiges Land.

Sehen Sie heute überhaupt noch Chancen einer Entwicklung zum Besseren?

Ja, aber sie sind kleiner als vor drei Jahren. Wir Iraker sind allein nicht in der Lage, unser Problem zu lösen. Wir sind gespalten, wir stehen unter Einflüssen von außerhalb. Als die USA in den Irak einmarschierten, lehnten sie jegliche Hilfe aus der arabischen Welt ab. Jetzt merken die USA, dass sie Hilfe brauchen. Weil jetzt aber die Wahlen bevorstehen und die Regierung gern will, dass wieder ein Republikaner gewinnt, wird von großen Erfolgen gesprochen, und nichts geht voran.

Und die Iraker selbst?

Sie haben das Chaos satt und sind bereit, sich zu einigen – das Problem ist unsere politische Elite. Sie ist inkompetent, egoistisch, korrupt und extremistisch. Es müsste vorgezogene Neuwahlen geben. Das braucht Bedingungen: Die Nachbarländer müssen sich heraushalten. Um das zu garantieren, braucht es eine regionale Einigung über die Zukunft Iraks, an der die Syrer, die Iraner, die Saudis alle beteiligt sein müssten. Dann müssten die USA bereit sein, so eine regionale Einigung zu akzeptieren – und schließlich auch die Israelis, was am schwierigsten werden dürfte.

Warum sollten Neuwahlen nicht wieder oder sogar noch mehr zu ethnisch-religiöser Zuspitzung führen? Immerhin waren die letzten Jahre nicht wirklich gut geeignet für die friedliche Entwicklung demokratischer Parteien.

Sie haben recht: Wenn man die Macht der Milizen nicht bricht, kann nichts dabei herauskommen. Wenn aber Iraner, Türken, Syrer und Araber übereinkommen, den Extremisten den Hahn zuzudrehen, kann sich im Irak jene Mehrheit durchsetzen, die davon schon lange die Nase voll hat.

Und das könnte das Land neu einigen?

Was ist denn die Alternative? Die USA können mit eiserner Hand als Besatzungsmacht weiter regieren. Oder aber man verfolgt einen politischen Ansatz, der dann allerdings die Hilfe etwa der Europäer und der Russen braucht und auch Iran einbezieht. Das wäre übrigens auch der beste Weg, um Radikalismus in der Region zu bekämpfen.

Sehen Sie dabei die US-Truppen im Irak als Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Ich sage den Amerikanern immer, entweder sie bluten weiter in einem endlosen Krieg, oder sie benutzen die Rückzugsankündigung, um die Iraker – und die Europäer – dazu zu bringen, Verantwortung zu übernehmen. Sie müssen den Rückzug als politisches Druckmittel einsetzen.

Sie haben also keine Angst vor der Ankündigung der demokratischen Kandidaten Obama und Clinton, die Truppen abzuziehen?

Ach, das ist Wahlkampf. Das Problem ist allerdings, dass die Demokraten noch keine Vision haben. Wenn du eine Idee hast, kannst du versuchen, dahin zu führen. Wenn du keine Idee hast, kannst du nicht führen.

INTERVIEW: BEATE SEEL, BERND PICKERT