Wie sich unterhalten?

Der Hamburger Kunstverein zeigt eine große Retrospektive der amerikanischen Künstlerin Sharon Lockhart. Ihr filmisches und fotografisches Werk stellt wie kein anderes die Frage, wie sich der Mensch die Zeit vertreibt

Was tun? So überschreibt Lenin sein 1902 erscheinendes Hauptwerk, in dem er Marx’ Lehre an entscheidender Stelle, und, wie sich zeigen sollte, mit fatalen Folgen korrigiert: Nicht das Proletariat könne das Subjekt der revolutionären Veränderung sein, sondern nur eine kleine, straff organisierte Gruppe, die sich als Avantgarde, als Lehrmeister der Arbeiterschaft begreift.

Was tun? Auf eine gänzlich andere, doch nicht minder bedeutsame Weise stellt die amerikanische Foto- und Filmkünstlerin Sharon Lockhart diese Frage und zwar in der Form: Was tun, wenn wir Zeit haben? Wie sie überbrücken, wie sie vertreiben? So grundlegend diese Frage für den Menschen ist, so selten stellt er sie sich, denn gemeinhin hat der Automatismus der Arbeit oder der Unterhaltungsindustrie sie schon stillschweigend beantwortet. Anders ist es bei Kindern, und wohl darum bilden sie so häufig das Sujet von Lockharts Arbeiten, die jetzt in einer großen Retrospektive im Hamburger Kunstverein zu sehen sind.

In einer etwa zehnminütigen Sequenz des Films „Pine Flat“ sieht man ein Mädchen und einen Jungen bis zur Brust im Wasser stehen. Sie rudern mit den Armen, um das Gewicht zu halten, und ihr Blick ist starr nach unten ins Wasser gerichtet, als ob sie auf dem Grund des Sees etwas suchten. Dabei bewegen sie sich ganz langsam, drehen sich um sich selbst, um den anderen, um irgendeine unsichtbare, nur geahnte Mitte. Plötzlich tauchen sie beide unter, schwimmen zwei, drei Züge, tauchen wieder auf und beginnen von neuem: ins Wasser schauen, mit den Armen rudern, hin- und hergehen. Es ist eine Art Spiel, mit geregeltem, sich wiederholendem Ablauf, mit einer Dramaturgie, und die Kinder gehen ganz darin auf.

Und der Zuschauer? Er ist in der gleichen Lage wie die Kinder. Er hat Zeit, die er vertreiben muss, und der Film ist so still und unaufdringlich wie der See, den er zeigt. Er muss sich mitten hinein begeben in den Film und am Spiel teilnehmen: Er kann sich mit den Kindern drehen, sich zurückdrehen in die eigene Kindheit. Er kann sich gedanklich um ganz was anderes drehen, oder kann den Blick von Lichtreflex zu Lichtreflex, golden, silbern, blau und grün, hüpfen lassen.

Genauso wahrscheinlich ist aber ein anderes Szenario: Der Zuschauer wird angesichts des Films nervös, denn was taugt schon ein Film, in dem nichts passiert, und sich noch nicht einmal die Kamera bewegt? Je länger sich dieser Zuschauer dem Film aussetzen würde, desto unerträglicher würde die Nervosität, desto weiter die Leere in ihm, und schließlich würde er brüsk, ja panisch aufstehen und den Saal verlassen.

Einen solchen Fall des gescheiterten Zeitvertreibs zeigt uns Lockhart in einer anderen Sequenz des Films. Ein Junge im Wald, man sieht ein paar Äste, die wie graues, schütteres Haar hinter ihm aus einem Stamm sprießen. Der Junge trägt Tarnkleidung und eine schwarze Mütze, die Beine sind übereinander geschlagen. Ein leichter Wind ist aus den Bäumen zu hören, es könnte aber auch eine ferne Autobahn sein. Die Szene ist äußerst bedrückend, der Junge passt nicht in den Wald, oder besser: kann sich nicht einpassen, nicht auf ihn einlassen. Er schaut sich nicht um, sein Blick ist meistens auf den Boden gerichtet, manchmal rupft er an einem Blatt. Plötzlich schaut er hastig auf, in der Hoffnung, dass etwas passiere. Aber nichts passiert, und so macht er sich wieder an dem Blatt zu schaffen. Dann hebt er plötzlich ein Gewehr, wieder sehr ruckartig, zielt, mal hier hin, mal dorthin, und legt das Gewehr wieder zurück. Die Hektik seiner Bewegung verrät, dass es sich um Ausbruchsversuche handelt, nicht um den Höhepunkt einer geregelten Bewegung wie bei den tauchenden Kindern. Und wenn er am Blatt rupft, ahnt man die Verzweiflung. Denn es ist offenbar so: Wenn du die Zeit nicht totschlägst, erschlägt sie dich.

Das Verstreichen der Zeit und wie wir es begleiten, lässt sich auch in Lockharts Fotoreihe „No-no-ikebana“ nachzeichnen. Die Fotos zeigen das Verwelken eines Blumenkohls über die Dauer von 30 Tagen. Aber hier steht noch anderes dahinter. Eigentlich ist das Ikebana ein aristokratischer Brauch, der in strengen Regeln das Ordnen von Blumen in einer Vase beschreibt. Mit Gemüsesorten betrieben ist es eine originelle Aneignung von Seiten des bäuerlichen Milieus – und damit eine Absage ans Ideal des Expertenwissens. MAXIMILIAN PROBST