Talarmuff und Brieftaschenmädchen

Eine Ausstellung des Hamburger Staatsarchivs über „die 68er“ zeigt die Revolte in Dokumenten, ganz ohne Deutungsempfehlung. Neben den politischen Großkonflikten bekommen die Jahre, die die Republik veränderten, in der Schau auch ein alltagskulturelles Gesicht

VON MAXIMILIAN PROBST

Im Foyer des Staatsarchivs Hamburg, gleich hinter dem Eingang, steht ein Stuhl, davor ein Tisch, darauf ein Buch. Die Seiten sind bedeckt mit schwer lesbaren Namenszügen, dazwischen stößt man auf den einen oder anderen Kommentar, etwa auf diesen hier: „Ich bin ein 68er und ich bin stolz darauf.“ Dieser Satz klingt heute einem anderen erstaunlich ähnlich: „Ja, ich rauche. Und ich bin stolz darauf.“ Hört man diesen verteidigenden Tonfall im Satz, dann erzählt er, so kurz er auch ist, eine lange Geschichte, allerdings nicht vom Jahr 1968, sondern von der Zeit danach; vom Marsch durch die Institutionen, bei dem sich die Ideale flugs in Ballast verwandelten, vom Seitenwechsel vieler einstiger Mitstreiter und schließlich vom jüngsten Wandel im Geschichtsbild, das die 68er als völlig überflüssigen Pubertätsauswuchs charakterisiert oder, mustergültig in Götz Alys Buch „Unser Kampf“, sie auch gern mal in die Nähe der Verbrecher rückt, die man damals zu bekämpfen meinte.

Glücklicherweise korrigiert die Ausstellung „Die 68er in Hamburg. Gesellschaft in Bewegung“ diesen revisionistischen Blick. Sie zeigt vielmehr, dass das Jahr 1968 eine komplexes Gewebe ist, in dem die Fäden der Einsicht häufig mit denen der Blindheit verwoben sind. Das ließe sich schon aus dem ersten Exponat der Ausstellung herauslesen, aus einem der Flugblätter, die im Eingangsbereich von der Decke baumeln. Zurecht werden da in einer Schrift die Verleumdungen der Springer-Presse gegeißelt. Dass man sie allerdings als „antistudentische Progromhetze“ (sic!) apostrophiert, zeigt mit seinem Rechtschreibfehler und der Unverhältnismäßigkeit des Vergleichs, wie wenig man von der jüngeren deutschen Geschichte verstanden hatte.

Es ist ein Gewinn für die Ausstellung, dass die Macher darauf verzichtet haben, den Betrachter auf eine Deutung zu stoßen. Abgesehen von einigen kurzen einführenden Texten haben die Quellen das Wort: Akten, Protokolle, Fotos, Plakate und viele Zeitungsberichte. Das heißt für den Besucher, dass er sich Zeit nehmen muss für die Schaukästen und Stellwände. So hängt zum Beispiel das berühmte Transparent mit den Worten: „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ unter der Decke. Wirklich sprechend, gerade in seiner Anspielung auf die Nazi-Kontinuität, wird dieser Schriftzug allerdings erst, wenn wir im Kasten darunter den kleinen Zeitungsschnipsel aus der New York Times lesen: Da steht, dass ein Professor während der Aktion gerufen habe, das aufrührerische Studentenpack gehöre ins KZ. In den Ausschnitten aus der Springerpresse ist von diesem Zwischenfall natürlich keine Rede.

Überhaupt erweisen sich viele Texte aus der Bild als kulturgeschichtliche Perlen. Allein für die ausgestellte Artikelreihe „Mädchen aus der Brieftasche“ lohnt ein Besuch des Staatsarchivs. Die Bild hatte ihre männlichen Leser aufgefordert, die Bilder ihrer Freundinnen oder Frauen einzuschicken, und sie mit hübschen Worten anzupreisen. Gewählt werden sollte dann das „netteste Mädchen Nord-Deutschlands“. Abgedruckt sieht man die Köpfe der jungen Frauen, allesamt lächelnd, meistens den Kopf leicht geneigt. Darunter das Lob der Herren, Variationen auf ein Thema: „Sie ist hübsch, treu und anpassungsfähig.“ Ja, auch das war das Jahr 1968, in dem noch der Paragraph 1356 des Bürgerlichen Gesetzbuchs galt: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, sowie dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“

Proteste, Politik, die Geschlechterrollen, und schließlich auch den Lifestyle der 60er Jahre – die Ausstellung zeigt das Ereignis in all seinen Facetten, die jede vorschnelle, eindimensionale Erklärung scheitern lassen. Offensichtlich ist: vieles hat sich in jenen Jahren geändert; manches zum Guten, manches zum Schlechten. Im Hamburger Staatsarchiv kann man sich daran erinnern, dass man dort, wo die 68er richtig lagen, weitermachen sollte, und dort, wo sie in die Irre gingen, die Gründe dafür klären sollte, statt sie zu verdammen.

Bis 23. Mai: Die 68er in Hamburg – Gesellschaft in Bewegung, Staatsarchiv Hamburg, Kattunbleiche 19, Mo bis Fr 10 bis 16 Uhr, Mi bis 18 Uhr. Eintritt frei