Hallo, ich

Im letzten Sommer ging es Micz Flor nicht gut. Um seinem Leben Halt zu geben, schrieb er jede Nacht einen Song, ganze 103 Tage lang. Heute Abend tritt er zum ersten Mal damit im Kaffee Burger auf

VON PATRICIA HECHT

Eines Tages hatte Micz Flor keinen Grund mehr, aufzustehen. Keine Träume, keine Visionen. Auf einmal fehlte die Orientierung. Um am Morgen trotzdem auf die Beine zu kommen und tagsüber zu funktionieren, schrieb er jede Nacht einen Song. Er taufte das Projekt „Getting Up Every Morning“ und stellte die Songs ins Netz. „103 Songs aus härteren Zeiten“ sind das Resultat einer ziemlich produktiven Depression, heute Abend zum ersten Mal live im Kaffee Burger zu hören.

In einer Art Midlife-Crisis sei er mit 37 an dem Punkt gewesen, einen Halt zu brauchen, sagt Flor. „Getting Up Every Morning“ gab ihm einen Rhythmus. Tags konnte er sich auf das Songschreiben am Abend freuen, abends gab es was zu tun. „Das war wie eine sichere kleine Blase. Ich brauchte nicht rauszugehen, musste niemanden treffen und dachte anfangs: Das mach ich jetzt für den Rest meines Lebens.“ Es sind nur ein paar Monate geworden. Im Februar 2007 stellte er seine Myspace-Seite und einen Blog online, in den ersten acht Wochen kam täglich ein neuer Song dazu.

Musik gehört nicht zu den schlechtesten Gründen, aufzustehen, und diese hier schon gar nicht. Die Singer-Songwriter-Basics reichen, um die Songs zu feinen, intensiven Momentaufnahmen zu machen: Eine nahe, weiche Stimme singt über der Gitarre, hin und wieder hört man etwas Background. Die kürzesten Stücke sind zwanzig Sekunden lang, die meisten bleiben unter einer Minute. Sie sind ein Sich-treiben-Lassen in kleinen Zuständen, und sie sind die geballte Ladung Gefühlshaushalt von Micz Flor.

„Es ist ein total narzisstisches Projekt, hallo, ich“, sagt Flor. Er singt sich Liebeslieder und mit sich selbst Kanon, und wahrscheinlich wäre das alles kaum auszuhalten, wenn sich da ein selbstverliebter Egozentriker in seinem Output aalte. Aber auf den Fotos im Internet sieht man einen ziemlich geknickten Typen auf dem Sofa sitzen, ein Kissen klemmt unterm Arm, die Schultern hängen. Er ist traurig und ehrlich, und nur manchmal muss man lächeln, weil der See aus Selbstmitleid gerade über die Ufer zu treten droht. Zu ernst nimmt er sich selbst aber auch nicht; die täglichen Handyfotos von Street Art, Schneekugeln und schielenden Katzen nehmen den Songs einiges von ihrer Schwermütigkeit.

Dass die Zeit aber doch eher hart war, sagen auch die Lyrics. Mal wälzt Flor Gedanken und stellt sich selbst in Frage („Is it my choice? Or is it just my fault?“), mal spricht er ins Leere mit der Exbeziehung („Don’t roll your eyes/ don’t give me that smile/ let me talk just for a while“). Mal klingt es auch, als ob gerade einer vor sich hin zupft und Wörter und Musik ausprobiert. Dass da immer Substanz ist, liegt wohl auch am Therapiefaktor der ganzen Sache: „Die Lieder sind nicht perfekt, aber sie sind fertig. Ich habe so lange daran gearbeitet, bis sie für den Moment stimmten und das sagten, was ich loswerden wollte.“ Und wenn es nur die Erkenntnis der totalen Leere ist. „Tonight I’m empty, tonight that’s all.“

„Getting Up Every Morning“ ist ein Projekt, dessen Macher weiß, was er tut. Flor war Mitte der 90er Gitarrist des ziemlich kurzlebigen Duos „The Ambassadors“ (eine Platte, vier Songs, drei Auftritte), aus dem bald darauf ohne Micz Flor die Band Komeit entstand, eine Berliner Vorläuferin des späteren Neo-Folks. Er spielt heute im Art Critics Orchestra (ACO) und mit verschiedenen Künstlern wie Annika Ström, er hat ein eigenes Label, und jenseits der Musik gehört er mit Projekten in Medien, Kunst und Kultur auch eher zu den Hyperaktiven. Sein Arbeitsumfeld war einer der Gründe, warum Flors Name auf Myspace und dem Blog nicht auftaucht: „Ich wollte schon gehört werden, aber dabei anonym bleiben. Ich wollte das nicht in meinen Alltag reintragen, sondern anderswo ablegen.“ In diesem Anderswo wuchs indessen ein Netzwerk. Aus einem Projekt, im Alleinsein entstanden, entwickelten sich Online-Kontakte und Austausch. Flor bekam ein Lied geschenkt und schenkte zurück, er vertonte Texte einer kalifornischen Myspace-Kollegin, sang Duett und steuerte seinen Teil für „The 20th“ bei, einer Compilation von Songs, die am 20. eines Monats entstanden sind. Erst nach und nach wurden Freunde und Bekannte auf „Getting Up Every Morning“ aufmerksam, darunter der Berliner Konzertveranstalter Ran Huber, der Flor noch aus den 90ern kennt. Huber fragte über Myspace, ob Flor seine Songs nicht live spielen wolle, und kam zunächst zu spät. Die grauen Monate waren im August 2007 schon überstanden, die Seiten vegetierten vor sich hin.

Dann gelang es Huber aber doch noch, einen Termin auszumachen, und so ist heute Konzertpremiere. Micz Flor covert seine eigenen Songs, weil er keine Noten aufgeschrieben hatte, und spielt mit knapp einjährigem Sicherheitsabstand zu seinen Emotionen außerhalb des gefühlten Schutzraums Internet. Ran Huber nannte „Getting Up Every Morning“ für die Live-Situation „103 Songs aus härteren Zeiten“. Es ist ganz schön zu wissen, dass nach 103 Songs Schluss war. Micz Flor sagt, es geht ihm wieder gut.

Kaffee Burger, 21 Uhr, 5 € www.gettingupeverymorning.com www.myspace.com/gettingupeverymorning