die taz vor 18 jahren über die verpassten sicherheitspolitischen chancen 1989
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Angesichts der Inflation „historischer Momente“ im letzten halben Jahr ist eine Schrecksekunde des politischen Establishments nahezu unbemerkt geblieben. Wer im letzten Herbst die Diskussionen der kleinen Metterniche verfolgte, stieß bei ihnen auf eine Verunsicherung, wie sie in der europäischen Geschichte selten ist. Anlaß des Entsetzens bei den auf traditionelles Blockdenken eingeschworenen Sicherheitspolitikern war nicht so sehr, daß die europäische Nachkriegsordnung sich in rasanter Auflösung befand, sondern wie dieser Vorgang vonstatten ging. Den Staatskanzleien, hohen Militärs und Think-Tanks in den USA und Europa war die Kontrolle entglitten, denn die Außenpolitik wurde plötzlich auf den Straßen Osteuropas gemacht. Hinter dem öffentlichen Grinsen von Bush, Mitterrand und Kohl steckte nacktes Entsetzen – daß nämlich das „Sicherheitsrisiko Mensch“ plötzlich in das Refugium der Außenpolitik drängte. Für aufmerksame Beobachter war diese Verunsicherung mit Händen zu greifen. Was wird aus uns, wenn der Warschauer Pakt sich auflöst? Wird der Funke von Ost- auf Westeuropa überspringen? Die Verunsicherung war so groß, daß Bush und sein Außenminister in ersten Statements zu erkennen gaben, daß die Zeit der Nato vorbei sein könnte, Deutschland als Ganzes vielleicht nicht einfach zu integrieren sei – Aussagen, die später als Versprecher einer übermüdeten Nachtsitzung deklariert wurden. Mittlerweile hat das westliche Establishment längst wieder Tritt gefaßt. Das Projekt einer europäischen Friedensordnung jenseits militärischer Kategorien, mit dem das Vakuum im November/Dezember 1989 hätte gefüllt werden können, wurde auch im außerparlamentarischen Raum nicht formuliert, die Friedensbewegung im Westen blieb stumm. Der Nato ist es gelungen, sich nach dem ersten Schock wieder als Garant der Stabilität zu präsentieren. Die Gelegenheit, eine Alternative dagegenzusetzen, blieb ungenutzt. Jürgen Gottschlich, taz 17. 4. 1990