Terror war Teil der Strategie

Bernd Greiner beschreibt in „Krieg ohne Fronten“ akribisch und mit kühlem Kopf, wie der Vietnamkrieg am Boden geführt wurde. Er enthüllt zudem das fatale Zusammenspiel zwischen einer Führung ohne moralische Maßstäbe und den überforderten Soldaten

VON STEFAN REINECKE

Ich weigere mich einfach, anzuerkennen, dass eine kleine viertklassige Macht wie Nordvietnam keinen Punkt hat, an dem es in die Knie geht. Henry Kissinger, 1969

Am 19. Februar 1970 sollten fünf US-Soldaten der Company B des 1. Bataillons das Dorf Son Thang nach feindlichen Vietcong durchsuchen. Die GIs fanden, wie so oft auf Patrouillen, keine Vietcong-Kämpfer. Anstelle dessen trieben sie 16 Frauen und Kinder aus ihren Hütten und erschossen sie. „Schießt als Erste und stellt keine Fragen“, so hatte der Befehl des Lieutenants gelautet.

Der Terror gegen Zivilisten gehörte jahrelang zur Alltagspraxis der US-Armee in Südvietnam. Das Massaker, das US-Soldaten 1968 in dem Dorf My Lai anrichteten und dem über 400 Zivilisten zum Opfer fielen, war kein Einzelfall, sondern nur ein spektakulärer Höhepunkt. Dies ist der solide belegte Befund des Hamburger Historikers Bernd Greiner in „Krieg ohne Fronten“.

Um zu erforschen, wie viele Massaker es gab, hat der Autor die zwanzig Jahre lang gesperrten Akten der von der US-Armee beauftragten „Vietnam War Crimes Working Group“ durchforstet. Greiner stellt das Material differenziert dar, meidet voreilige Anklagen, bezweifelt auch belastende Aussagen und erliegt nicht der Faszination der großen Zahl. Vollständige, verlässliche Daten, wie viele Kriegsverbrechen die US-Armee in Vietnam begangen hat, gibt es nicht.

Warum aber verwandelten sich all-american boys, die daheim auf die Highschool gingen, Tankwart oder Farmer waren, in Vietnam in kürzester Zeit in bedenkenlose Killer, die mit Automatikgewehren auf Babys schossen, Gefangene aus dem Hubschrauber warfen und Mädchen kidnappten, vergewaltigten, töteten? Greiner verhandelt diese Frage analytisch und wohltuend fern von der misanthropisch gefärbten, kulturpessimistischen Gewaltkritik à la Wolfgang Sofsky. In My Lai kam nicht die Natur des Menschen zum Vorschein. Es gab Gründe, Bedingungen, begünstigende Umstände. Die Täter, die Gefangene folterten und massakrierten, waren meist einfache GIs. Ihre Brutalität hatte gewiss mit der rassistischen Verachtung zu tun, die sie den „gooks“ entgegenbrachten. Doch erklärlich ist die Gewaltexplosion nur, wenn man sie als Teil der Logik des US-Kriegs begreift.

Ein wesentlicher Grund für die nahezu uferlose Ausdehnung willkürlicher Gewalt der GIs war der „body count“. Demnach war offizieller Maßstab für den Erfolg einer militärischen Aktion die Zahl der getöteten Feinde. Da der Vietcong als Guerilla operierte – war es für GIs da nicht naheliegend, Zivilisten für Vietcong zu halten und nachträglich dazu zu deklarieren? Jeder tote Vietnamese ist ein Vietcong, hieß es dementsprechend bei den GIs. Strittig war nur, ob Schwangere als ein oder zwei getötete Feinde zählten.

Es gab keinen ausdrücklichen Befehl von oben, Zivilisten zu massakrieren. Doch Greiners souveräne Darstellung macht klar, dass der Terror der oft tagelang auf eigene Faust handelnden GI-Trupps nur möglich war, weil die militärische Führung bei den „rules of engagement“, den Einsatzregeln, beide Augen zudrückte. Bei der Operation „Speedy Express“ 1968/69 wurden 11.000 Tote kurzerhand zu Vietcong erklärt, obwohl nur 700 Waffen gefunden wurden. Alle Verantwortlichen, bis zum US-Präsident, wussten, was diese Zahlen bedeuteten: Die US-Truppen hatten systematisch und massenhaft Unbeteiligte ermordet. Sie verwandelten sich mit Duldung von oben in eine marodierende Soldateska, die an die Söldnerheere des Dreißigjährigen Kriegs erinnerte. Die Führung des US-Militärs hatte mit dem body count ein Anreizsystem für Massaker geschaffen.

Der Terror war insofern kein Unfall, auch kein bloßer Nebeneffekt der dramatischen Erosion der Disziplin im US-Militär in Vietnam. Er war Teil der Strategie. Er sollte südvietnamesischen Zivilisten derart in Angst und Schrecken versetzen, dass sie es nicht mehr wagten, mit dem Vietcong zu kooperieren. Vietnamesen, die sich in einer der großflächigen „Free Fire Zones“ aufhielten, waren faktisch zum Abschuss freigegeben.

Der zentrale Grund für die Barbarisierung des Kriegs lag freilich nicht in der militärischen Taktik. Er geht auf das Konto der US-Politik, die in ihrer eigenen Doktrin gefangen war. Ein Rückzug kam einer Niederlage im Kalten Krieg gleich und daher nicht in Betracht. Je länger der Krieg dauerte, desto knapper wurde die Zeit. Der von den Generälen immer wieder vollmundig ankündigte Sieg ließ auf sich warten. An der Heimatfront wurde 1968 langsam Kritik laut. Doch die Antwort der US-Politik lautete: „more of the same“. Mehr Soldaten, mehr Verwüstungen, mehr body count, mehr tote Zivilisten. Greiner zeichnet diese, zentral von Henry Kissinger verantwortete Politik nach. Der Kern der US-Strategie war die paranoide Dominotheorie, derzufolge nach einer Niederlage in Vietnam bald ganz Asien den Kommunisten in die Hände fallen würde. Da die USA von dieser Sicht nicht abrückten, musste sie auf eine Eskalation setzen, die Terror einschloss. Die US-Regierung war unfähig, zu begreifen, dass der Kalte Krieg nicht in Saigon entschieden wurde und dass dem Widerstand des Vietcong auch nationale Motive zugrunde lagen. Mit dieser Analyse folgt der Autor Barbara Tuchmans glänzendem, schon vor 25 Jahren veröffentlichten Essay „Die Torheit der Regierenden“.

Greiner deutet diesen Krieg plausibel als asymmetrischen Konflikt. Dieser Begriff ist seit 9/11 populär geworden und bezeichnet gewalttätige Auseinandersetzungen, in denen Staaten gegen nicht staatliche Akteure wie al-Qaida. Der „amerikanische Krieg“ (so der vietnamesische Name) trug, obwohl er Schauplatz des Kalten Krieges war und auch reguläre nordvietnamesische Truppen beteiligt waren, Züge einer ungezügelten, asymmetrischen Konfrontation. Dazu gehört der zeitweise systematische Terror, den der Vietcong gegen Zivilisten ausübte. Die teilweise äußerst blutigen Massaker an sozialen Eliten deutet Greiner als naheliegende Praxis der Guerilla, die die Zivilbevölkerung als Schutzschild benutzte. Verselbstständigte Brutalität gab es somit auf beiden Seiten der Front. Bezeichnend ist das Zitat des nordvietnamesische General Giap: „Das Leben und das Sterben von Tausenden, selbst wenn sie Landsleute sind, bedeutet in Wirklichkeit sehr wenig.“

Ein schlagendes Beispiel, dass die Kategorien der klassischer Kriege hier nicht galten, war die „Tet“-Offensive 1968. Der Vietcong wollte damit in einem Handstreich in den Städten Volksaufstände gegen das korrupte südvietnamesische Regime auslösen. Doch die Zivilisten blieben neutral, dafür starben zehntausende Vietcongkämpfer in kurzer Zeit in aussichtslosen Kämpfen. Die Tet-Offensive endete als Fiasko, zumindest laut klassischer militärischer Kategorien.

Doch die Parameter verschoben sich. So verwandelte sich das Desaster für den Vietcong in einen kriegsentscheidenden Vorteil. Denn die Tet-Offensive führte der erschreckten US-Öffentlichkeit vor Augen, dass alle Beteuerungen der US-Generäle, dass der Sieg greifbar nahe war, gelogen waren. Damit verknappte sich die entscheidende Ressource der militärisch-technologisch weit überlegenen USA: das Vertrauen der US-Öffentlichkeit.

Die Tet-Offensive war eine Art umgekehrter Phyrrussieg. Sie zeigte, dass die dauerhafte Eroberung von Territorium, die in klassischen Kriegen Sieg und Niederlage definiert, nicht mehr ausschlaggebend war. Der Parameter, in dem über Sieg und Niederlage entschieden wurde, war nicht der Raum, sondern die Zeit. Und die war spätestens seit der Tet-Offensive ein Verbündeter des Vietcong.

58.000 US-Soldaten starben in Vietnam – und mindestens zwanzig-, wahrscheinlich aber dreißig- oder vierzigmal so viele Vietnamesen. Die meisten waren Zivilisten. Und die wenigsten davon wurden Opfer des heißen Krieges, den enthemmte US-Truppen ausfochten. Weitaus mehr starben in dem kalt kalkulierten Krieg der US Air Force, die über Vietnam mehr Bomben abwarf als im ganzen Zweiten Weltkrieg gefallen waren. Zu dem US-Krieg gehörten Bombenteppiche, der massive Einsatz von Napalm und des dioxinhaltigen Entlaubungsgiftes „Agent Orange“, dessen Verwüstung bis heute nachwirkt. Der Terror bei Patrouillengängen war gewissermaßen das Echo des maßlosen Luftkriegs der USA, der nur vor dem Einsatz von Atomwaffen zurückschreckte. Dieser Aspekt wird in „Krieg ohne Fronten“ nicht verschwiegen, aber er kommt entschieden zu kurz.

Abgesehen von dieser Unwucht ist „Krieg ohne Fronten“ glänzend recherchiert und ausgewogen in den Deutungen. Die augenfällige Stärke des Buchs ist die akribische, mit kühlem Kopf verfasste Nachzeichnung der Details der Kriegsführung am Boden, des fatalen Zusammenspiels zwischen einer Führung ohne moralische Maßstäbe und Fähigkeit zur Selbstkorrektur und der barbarischen Kriegsführung vor Ort. Greiner beleuchtet, allerdings eher zurückhaltend, auch psychologische Motive und sexualneurotische Aufladungen der GIs. Die Gewaltexzesse werden präzise beschrieben, ohne sie allerdings, etwa im Stil Jörg Friedrichs, allzu genüsslich auszumalen.

Und schließlich zeigt „Krieg ohne Fronten“ die Unfähigkeit der US-Militärgerichtsbarkeit die Täter zu bestrafen. Die Mehrheit der US-Bürger empfand 1970 nicht My Lai als Skandal, sondern dass „unsere Soldaten“ für das Massaker angeklagt werden sollten. Das Verbrechen wurde geleugnet und relativiert, William Calley wurde als Patriot und tapferer Soldat gefeiert. Er wurde mit Jesus verglichen und als Sündenbock bedauert, dem unfassbares Unrecht angetan wurde. Es entstand eine regelrechte Volksbewegung für Calley, die, so Greiners scharfsinnige Analyse, Einheit und Reinheit der US-Nation wiederherstellte – auf Kosten einer grotesken Verkehrung von Schuld und Unschuld.

Die USA waren, so der kristallklare Befund, unfähig, die moralische Lehren aus dem Vietnamkrieg zu ziehen. Was sagt das über die US-Gesellschaft heute aus? War der Vietnamkrieg ein Fehler, dessen Gründe – die Paranoia des Kalten Krieges – historisch und damit hinfällig geworden sind? Oder ist der Vietnamkrieg nach wie vor ein Menetekel, das zeigt, dass die US-Gesellschaft ohne einen stets verzerrt wahrgenommen Feind nicht existieren kann und aus innerer Logik Kriege führen muss?

„Krieg ohne Fronten“ lässt die Antwort offen. Manche Indizien legen jedoch nahe, dass der Vietnamkrieg keineswegs bewältigte Zeitgeschichte ist. Mit der oft gelobten Fähigkeit der USA zur Selbstkorrektur scheint es, wenn man genau hinschaut, nicht weit her zu sein. Keine beruhigende Aussicht.

Bernd Greiner: „Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam“. Hamburger Edition, Hamburg 2007, 595 Seiten, 35 Euro