„Alles wird verwertet“

Das Prinzip, vorhandenes Material für neue Kunst zu verwenden, prägt die Arbeit von Tänzern und Choreografen. Anne Kersting und Jochen Roller kuratieren auf Kampnagel Hamburg die Tanzthemenreihe „Copy / Paste“, die heute beginnt

Jochen Roller, 37, wurde in Berlin geboren, studierte Ballett in Berlin, Theaterwissenschaften in Gießen und Choreografie in London. Er kuratiert das Tanzprogramm auf Kampnagel. Anne Kersting, 37, wurde in Paris geboren, studierte Kunstgeschichte in Bochum und Theaterwissenschaften in Gießen. Sie arbeitet als Dramaturgin und Kuratorin auf Kampnagel.

INTERVIEW: MAXIMILIAN PROBST

taz: Frau Kersting, Herr Roller, woher haben Sie die Idee zu der Tanzreihe Copy / Paste?

Jochen Roller: Wir haben einen Wandel beobachtet: Früher hat sich der Choreograf als Genius verstanden, der den Tänzern die Bewegung vorgibt. Heute initiiert der Choreograf ein Projekt und lädt dazu Tänzer ein, und zwar nicht weil sie gut Pirouetten drehen können, sondern weil sie selber gute Choreografen sind.

Die Tanzstücke entstehen als kollektive Praxis?

Roller: Ja, immer öfter. Es gibt eine Initialzündung, und dann kreiert man gemeinsam etwas. So ähnlich, wie das in der Internetgemeinde mit der Open Source funktioniert.

Trotz dieser kollektiven Praxis: am Ende ist es ein einzelner Choreograf, der namentlich im Programmheft auftaucht.

Anne Kersting: Es ist ja auch so, dass sich im kollektiven Prozess eine Handschrift durchsetzt. Aber mit Copy / Paste gehen wir einen Schritt weiter: Da eignet sich etwa ein Choreograf Material an, das vollständig einem anderen gehört, und das schon aufgeführt wurde; eine andere Choreografin nimmt Material, was nie aufgeführt wurde, sondern in den Notizheften von anderen Choreografen vor sich hingammelt: Alles wird verwertet und so fremd das Material auch ist, es kommt etwas Eigenes heraus.

Die Autorenschaft?

Roller: Aber als anderes Modell. Die Originalität besteht nicht mehr darin, neues Material zu entwickeln, sondern vorhandenes zu bearbeiten. Und gerade in der Performanceszene ist diese Art von Kopieren, Zitieren, Montieren immer Thema. Wenn man mit populären Themen arbeitet, ein Musikvideo von Madonna in seiner Show verwenden will, da stellt sich die Frage: inwieweit bin ich da noch Künstler, wie weit muss ich das Material verfremden, um selber Kunst zu schaffen, statt nur die Kunst eines anderen auf die Bühne zu bringen?

Ein altes Thema in der Kunstgeschichte, oder? Man denke an Marcel Duchamp. Wo liegt das Neue?

Roller: Es gibt dazu eine interessante Theorie, die besagt, dass der Tanz, was die Themen anbelangt, immer der bildenden Kunst hinterherhinkt. Man könnte also spöttisch sagen: „Wow, jetzt ist das Kopierthema endlich beim Tanz angekommen.“ Andererseits eignet dem Tanz oft beispielhaft neue Arbeitsweisen.

Zum Beispiel?

Roller: Das so genannte „reenactment“, die Wiederaufführung. Im Programm haben wir den Versuch, einen Ausdruckstanz aus den 30er Jahren wiederaufzuführen. Das ist jetzt auch in der bildenen Kunst ein Verfahren.

Kersting: Was hier noch hinzukommt, ist die Frage: In wie weit kann mein Körper auch etwas erinnern und dadurch Erinnerungsarbeit leisten? Was kann ich dem Vergessen entreißen und wieder in die Kommunikation einbringen?

Wie wird denn mit geistigem Eigentum unter Choreografen umgegangen?

Roller: Es gibt manchmal Projekte, wo gefragt wird: „Kann ich dein Material benutzen?“ Aber hin und wieder gibt es wohl auch bewusste Raubkopie. Eine Raubkopie wird auch bei uns zu sehen sein, aber die ist einfach so gut gemacht, dass es lächerlich wäre, wenn jetzt jemand käme und sagte: „Hey, das gehört mir.“ In unserem Kontext bleibt es auch als ein Zitat erkennbar.

In der Wirtschaft wäre das undenkbar. Die Telekom hat sich ja selbst den von ihr verwendeten Rosaton schützen lassen. Sind vergleichbare Entwicklungen im Tanz denkbar, etwa patentierte Bewegungsabläufe?

Kersting: Das wäre schick.

Roller: Das wäre die Hölle. Jede Bewegung ist ja an sich schon ein Readymade. Jede Bewegung gibt es schon, ist schon mal vollzogen und gehört der Menschheit. Ich würde Choreografie dann so beschreiben: Sie ist nicht die ausgefallene Bewegung, sondern die Art, wie ich Bewegung aneinanderklebe. Womit wir schon wieder beim Copy / Paste sind. Wir zeigen eine Choreografie von Monika Antezana, die das Aneinanderkleben gut demonstriert. Sie nimmt die Bewegung eines Fischs auf, das lässt sich klar erkennen, aber hängt dann eine völlig andere Bewegung dran. Und wie sollte man nun die Bewegung des Fischs patentieren?

Man kann sich auch einfach an der bewegten Form erfreuen?

Roller: Naja, wir wollen schon etwas daran ändern, dass Tanz als duftes Rumgehüpfe wahrgenommen wird. Ich komme eigentlich aus Berlin, und ich finde das Verständnis von zeitgenössischem Tanz in Hamburg absolut erschütternd. Leute, mit denen man die gleiche Musik hört und die gleichen Bücher liest, sagen mir hier: „Wenn ich einen Tanz angucken will, dann gehe ich ins Musical.“ Das ist absolut indiskutabel und das wollen wir ändern – aber ohne gleich die Lust am Tanz abzuwürgen.

Woher kommt denn diese Hamburger Rückständigkeit im Tanzverständnis?

Roller: Ganz allgemein gibt es ein Problem von gesellschaftlicher Vermittlung und Bildung: Jede Oberstufe wird ins Schauspielhaus geprügelt, hier kommt keine an. Speziell kommt hinzu: In den letzten sieben Jahren wurde auf Kampnagel, der einzigen Bühne für zeitgenössischen Tanz, nur außereuropäisches Tanztheater gezeigt.

Was ist so problematisch daran?

Roller: Die Überlegung war, es gibt einen Eurozentrismus, dem man entgegenwirken wollte. Gut, nur ist natürlich ein außereuropäisches Tanztheater nochmals schwerer zu dechiffrieren. Das ist das Ethno-Problem. Wenn ich eine Gruppe einlade, dann lade ich ja nicht den Kontext mit ein. Und ohne Kontext gibt es meistens gar kein Diskurs. Wir möchten jetzt wieder ins Europäische zurückgehen. Wir leben nun mal hier.

Und schlagen uns gern mit geistigen Eigentumsrechten rum.

Kersting: Wenn wir das Thema aufgreifen, ist das auch ein Trick. Wir hoffen, es gibt hier einige, die sagen, Tanz interessiert mich nicht, aber Copy / Paste – interessantes Thema, ich schaue mir das mal an. Ein Köder. Und dann, hoffen wir, bleiben sie am Tanz hängen.

Die Tanzthemenreihe „Copy/Paste“ findet vom 23. April bis 10. Mai auf Kampnagel Hamburg statt. Nächste Aufführungen: 23. 4., 19.30 Uhr: Antje Pfundtner; 24. 4., 21 Uhr: Joanne Leighton; 25.4. und 26.4.: 19.30 Uhr Antje Pfundtner, 21 Uhr Monica Antezana.Weitere Infos: www.kampnagel.de