berliner szenen Normal unter Großen

Ein kluges Kind

Der Fernseher läuft. Man diskutiert über ein bezeichnenderweise nur auf DVD zu betrachtendes Theaterstück, legt einige Dinge zugunsten des Regisseurs aus, wirft ihm anderes vor, verdammt die Schauspieler. Rein kulturtechnisch, nichts Privates. Plötzlich weint die sechsjährige Tochter des Pfeife rauchenden Selfmadevisionärs. Immer streiten sich alle, klagt sie, Erwachsene könnten sich nicht normal unterhalten. Alle beteuern, dass es sich keinesfalls um einen Streit handle, eher um eine Meinungsverschiedenheit. Das sei ganz normal „unter Großen“, das passiere ständig. „Das hab ich doch gerade gesagt, immer habt ihr Streit. Dass ihr das mit einem anderen Wort erklärt, ändert gar nichts!“

Jetzt herrscht der seiner Tochter in rhetorischen Dingen eindeutig unterlegene Vater sie an: Klappe jetzt, bei dir piept’s wohl, und was bildest du dir überhaupt ein. Betretenes Schweigen. Noch nervenzerreißender hätte man die nächsten Sekunden nur durch ein wenig Filmmusik von Ennio Morricone gestalten können. Nun aber mischt sich die esoterisch angehauchte Mutter ein, was ihrem Mann einfalle: So mit der Tochter zu reden! Es hake wohl, nicht mehr alle Tassen im Schrank, als Kind zu heiß gebadet etc. Ich stelle meinen Handywecker auf 22.36 Uhr, um in spätestens einer Minute ein Telefonat vortäuschen zu können. Nun artet es aus, Vorwürfe, die niemand hören will, werden durch die Räume geschrien, der Handywecker klingelt, und ich schicke mich an aufzubrechen. Das Mädchen steht an der Tür, um mich zu verabschieden. „Das geht jetzt auf jeden Fall noch zwei Stunden“, stöhnt es, um freudestrahlend hinzuzufügen: „Da kann ich noch die Entscheidung bei Germany’s Next Topmodel gucken!“

JURI STERNBURG