„Man muss den ganzen Vertrag sehen“

Vor der Mitgliederversammlung der Hamburger Grünen: Christa Goetsch, Zweite Bürgermeisterin und Schulsenatorin in spe, im taz-Interview über schwarz-grüne Unterschiede, die zu neuen Lösungen und echten Fortschritten führen sollen

CHRISTA GOETSCH, 55, GAL-Spitzenkandidatin im Wahlkampf, davor 22 Jahre lang Lehrerin an einer Grund-, Haupt- und Realschule im sozial schwachen Quartier Altona-Nord

INTERVIEW: KAIJA KUTTER
UND SVEN-MICHAEL VEIT

taz: Frau Goetsch, wie fühlt sich Schwarz-Grün jetzt an?

Christa Goetsch: Es geht hier nicht um Gefühle ...

Dann sprechen wir von fehlenden Gemeinsamkeiten zwischen zwei Parteien und Wählerschichten mit sehr unterschiedlichen Kulturen.

Eine kritische und skeptische Haltung zu dieser Konstellation ist verständlich, weil wir ja über Jahre in der Opposition den CDU-Senat bekämpft haben. Umwelt, Energie, Soziales, Bildung – da lagen wir in vielen Bereichen weit auseinander, fast unvereinbar. Deshalb ist es für viele befremdlich, dass wir uns zusammengesetzt haben. Aber wir haben über die Arbeit gemerkt, dass wir im Koalitionsvertrag echte Fortschritte erreichen können.

In der Präambel des Vertrages heißt es: „Unterschiede müssen nicht zu Widersprüchen zugespitzt werden, sie können auch zu Ergänzungen verbunden werden, die neue Lösungen ermöglichen.“ Das klingt, als seien die Koalitionspartner selbst überrascht, dass die Verhandlungen nicht gescheitert sind.

Es ist auf Augenhöhe verhandelt worden. Man hat sich eine Akzeptanz erarbeitet, so dass es nicht zu Zuspitzungen kam, die unüberwindbar waren, sondern in vielen Fällen zu neuen Ideen.

Für die Flüchtlingspolitik gab es offenbar weder neue noch gute Ideen. Während der Verhandlungen wurde eine Familie durch Abschiebung auseinander gerissen. Genau das schließt der Koalitionsvertrag aus. War diese Aktion eine gezielte Provokation?

Es ist bezeichnend, dass diese Ausländerbehörde, egal wer regiert, immer wieder meint, Entscheidungen fällen zu können, die nicht politisch getragen werden. Wir versuchen jetzt, eine Lösung für die Familie zu finden. Es ist skandalös, dass diese Behörde eigenmächtig handelt. Der Vorfall zeigt, dass es notwendig ist, alte Strukturen zu ändern, damit das nie wieder passiert.

Der Vertrag beschreibt eine soziale und ökologische Wohnungsbaupolitik und die Verknüpfung von sozialer Stadtteilentwicklung mit Arbeitsmarktpolitik. Das ist das Gegenteil bisheriger CDU-Politik, das ist 100 Prozent GAL. Wie kam es denn dazu?

Es stimmt, das sind grüne Positionen. Wir hatten eben fundierte Konzepte erarbeitet: Klimaschutz und Energieeffizienz auch und gerade im Wohnungsbestand, Flächenrecycling statt Flächenverbrauch, Schaffung von Arbeit in den Quartieren, wo es am nötigsten ist – wir hatten gute Argumente.

Hamburg soll die sechsjährige Primarschule bekommen. Was ist das Ziel dabei?

Das erste und wichtigste Ziel ist, dass die frühe Auslese von zehnjährigen Kindern beendet wird, wirklich für alle Kinder. Wir sind neben Österreich das einzige europäische Land, das diese Auslese noch betreibt.

Sollen mehr Kinder als heute höhere Abschlüsse machen?

Das ist natürlich das Ziel. Das politische Ziel unserer Partei bleibt weiter „Neun macht klug“. Das ist klar. Aber diese Strukturreform könnten wir selbst mit einer absoluten Mehrheit nicht in einer Legislatur umsetzen.

Es gibt Gegenwind aus dem Gymnasiallager, es gibt Kritik auch von der GEW. Die stört, dass es auch Primarschulen geben soll, die ab Klasse 4 an einem Gymnasium angesiedelt sind oder als Langform sogar ab Klasse 1. Warum haben Sie sich für diese Option entschieden?

Das sind Vorschläge, über die bei der regionalen Standortplanung entschieden wird. Man muss vor Ort schauen, wer mit wem zusammenarbeiten kann, wie die Räumlichkeiten und andere Gegebenheiten sind. Aber die Primarschule bleibt, auch in der Langform, eine eigenständige Organisation mit eigener Leitung und Mitwirkungsgremien wie der Schulkonferenz.

Werden die bildungsbeflissenen Eltern nicht zu den Schulen strömen, die mit einem Gymnasium kooperieren?

Das sind getrennte Systeme. Nach Klasse 6 entscheidet die Primarschule über die weitere Laufbahn. Da wird eben noch getrennt, das ist der Kompromiss. Aber in Klasse 7 müssen alle Schulen aufnehmen, auch die Gymnasien. Die können sich nicht Kinder rauspicken.

Und wenn 200 Kinder an die Primarschule wollen, die mit dem Gymnasium kooperiert, die aber nur 100 Plätze hat?

Diese Primarschule befindet sich mit drei oder vier anderen in einem Verbund. Die Kinder werden dann unter diesen Schulen aufgeteilt. Dabei wird immer die Wohnortnähe entscheidend sein. Für Kinder ist es wichtig, den Schulweg zu Fuß gehen zu können.

In Umweltfragen haben die Grünen einige Kröten geschluckt – die Elbvertiefung, den windelweichen Kompromiss zum Kohlekraftwerk Moorburg und die A26. Wie wollen Sie mit solchen Ergebnissen vor Ihre Basis treten?

Mit Zuversicht. Man muss den ganzen Koalitionsvertrag sehen. Und wir haben im Umwelt-, Klima- und Naturschutz sehr viel erreicht. Die Elbvertiefung war von vornherein ein schwieriges Thema. Aber wir haben durch die Elbestiftung eine Möglichkeit gefunden, die ökologische Situation der Elbe zu verbessern. Auch der Einstieg in eine norddeutsche Hafenkooperation war uns wichtig. Und bei Moorburg haben wir auch noch einen dritten Player: Vattenfall. Deshalb wird es die rechtliche Prüfung geben. Und wir werden das Fernwärmenetz ab 2014 neu ausschreiben. Mehr ist dazu zur Zeit nicht zu sagen.

Was passiert am Sonntag auf der Mitgliederversammlung?

Wir werden sicherlich sehr intensiv diskutieren, das ist immer so bei uns Grünen. Das Ergebnis kann ich nicht vorhersagen, aber ich bin optimistisch. Ich kann voller Überzeugung empfehlen, dem Vertrag zuzustimmen.

Es ist ein guter Vertrag für eine Regierung mit Grünen?

Sonst hätte ich ihn nicht unterschrieben.

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