ausgehen und rumstehen
: Das Private und das Politische vertragen sich doch!

„Ich gebe dir mal schnell einen Flyer“, sagte eine alte Bekannte am Freitag, „denn in der nächsten Stunde werde ich so betrunken sein, dass ich das bestimmt vergesse.“ „Sehr weise“, sagte ich. Aber wo ist das blöde Ding jetzt? a) Ich hab es für einen dieser unverschämten „Wollen Sie Ihr Auto verkaufen?“-Zettel gehalten, die ständig hinter den klapprigen Scheibenwischern an meinem Wagen stecken, b) ich hab es mit dem ausgefransten „Einen Gratis-Kaffee im Bierpinsel Steglitz“-Gutschein verwechselt, der seit sieben Jahren in meiner Handtasche wartet, falls ich da mal vorbeikomme, Kaffeedurst verspüre und pleite bin, oder c) ich hab mir daraus einen Filter gebaut. Aber seit wann kiffe ich wieder?

Freitagabend war nämlich wild. Obwohl er trödelig anfing: Um nicht wie eine dieser provinziellen BerlintouristInnen auszusehen, die denken, 21 Uhr hieße 21 Uhr, ging ich extraspät zum „HelsinKiss Berlin“ im 103. Und prompt hatten Aavikko schon gespielt! Seit wann heißt denn 21 Uhr 21 Uhr? Nichts ist mehr wie früher! War aber nicht so schlimm, denn die letzte Band des Erhaltung-finnischen-Kulturguts-Abends war ebenfalls prima, außerdem hatte plötzlich jemand in unserem Kreis eine Flasche Wodka zugesteckt bekommen, ganz legal, und so saßen wir bereits vor Mitternacht zu sechst in einem Großraumtaxi auf dem Weg zu einer Party im Prenzlauer Berg, gossen alle zehn Sekunden wieder einen Wodka-Schraubdeckel voll und benahmen uns trotz fortgeschrittenen Alters und überwältigend hohem Elternschaftsanteil mindestens so ausgelassen wie eine Highschoolabschlussklasse in einer Stretch-Limo, nur eben ohne U-Boot-Ausschnitttops, permanentem SMS-Geschreibe und „Der ist voll süüüüüüüß!!“-Gekreische. Das war, zugegeben, trotzdem der lustigste Teil des Abends, und ich zweifele wahrhaftig an mir selbst, weil das so ist. Seit wann ist denn der Weg das Ziel?

Samstag schob ich mich katerlos frisch dank Wodkakonsum früh aus dem Haus, um die Michael-Ruetz-1968-Ausstellung in der Akademie der Künste anzugucken. Denn der Fotograf und ehemalige Stern-Redakteur Michael Ruetz kann anscheinend an mehreren Orten gleichzeitig sein (ungefähr so wie der Weihnachtsmann) und macht dazu die grandiosesten Fotos, mit allem drauf, was man sehen möchte: Beate Klarsfeld klatscht Kiesinger, Ilja Richter steht als Jungspund 1969 mit ausgestrecktem Arm auf dem Fensterbrett der elterlichen Wohnung, Joseph Beuys boxt auf der Documenta 1972 gegen Abraham David Christian, und auf einem schier unglaublichen Massenbild von 1969 schaut man in Tausende von Augenpaaren der HörerInnen einer Rede von General Papadopoulos. Apropos: Versierter Anti-Olympia-Protest ist ja so neu nicht, in der ausstellungsbegleitenden Sponti-Poster-Sammlung hängt auch eines mit den olympischen Ringen als Gefängnisketten, „Griechenland grüßt die Olympiade“ steht drunter.

Abends walzte ich mich gutgelaunt in eine Galerie in Kreuzberg, in der eine Freundin Geburtstag feierte, und versuchte wieder, die Wodka-only-Regel zu befolgen. Aber da wäre ich ja vollends plemplem, wenn ich an einer so engstirnigen Regel festhalten würde: Seit wann macht denn Champagner einen Kater? Außerdem hatte ich ihn selber mitgebracht. Und so saß man vor dem Laden auf der Straße, als ob man kein Zuhause hätte, dem Geburtstagskind fuhr der Beat in die Beine und es tanzte vor, und dass ich später noch ein langes Gespräch zum Thema alltäglicher Rassismus in Deutschland und den Vereinigten Staaten hatte, fügte sich hervorragend in das Wochenende, das zwar äußerlich nach egoistischem Hedonismus stank (und der tolle Ruetz-Katalog war auch derbe in die Konsumkosten gegangen), in Wirklichkeit aber viel mehr und viel globaler war. Seit wann überhaupt vertragen sich das Private und das Politische nicht mehr? Eben. JENNI ZYLKA