Tauchgänge ins Trauma

Mit dem Minotaurus in den Wilden Westen: Karen Russel hat ein modernes Märchenbuch geschrieben – „Schlafanstalt für Traumgestörte“

Die Protagonisten in diesen zehn mittellangen Erzählungen sind fast immer Kinder, allenfalls pubertierende Teenager. Nur einmal spielt ein pensionierter einbeiniger Alligator-Ringer aus den Sümpfen die Hauptrolle, der durch seine Demenz allerdings ebenfalls zurückgeworfen wird auf einen Zustand quasiinfantiler Weltwahrnehmung. Darum geht es Karen Russel vor allem: um eine magische Sichtweise auf die Realität, um die von der Ratio noch nicht domestizierte, mythische Unschuld, in der Liebe und Grauen noch kein Maß kennen.

Und so erzählt sie, sprachlich ambitioniert und durchaus bildmächtig, immer auf Augenhöhe – etwa von Ava, die es für völlig normal hält, wenn die ältere Schwester (in „Ava ringt mit dem Alligator“) Nacht für Nacht von einem Geistergeliebten heimgesucht wird und schließlich mit ihm durchbrennen will; oder von Timothy und Wallow (in „Olivia überall“), die jeden Abend hinaus aufs Meer fahren und den Geist ihrer ertrunkenen Schwester finden wollen. Was sie bei ihren Tauchgängen zu sehen bekommen, ist wirklich nicht von dieser Welt: „In der fünften Nacht unserer Suche sehe ich einen Plesiosaurier. Es ist ein superhell leuchtender Koloss, bronzen und blauweiß, der über den Meeresboden streicht wie ein träger Komet. Bei seinem Anblick habe ich ein elementares Déjà-vu-Erlebnis, als ob ich sehe, wie ein Traum in meinen Körper zurückkehrt. (…) Ich versuche ihm auszuweichen, aber das Ding ist zu groß. Eins der Riesenpaddel fährt zitternd durch mich hindurch. Es ist ein Licht in meinem Bauch, kalt und vertraut. Und mir fällt ein Satzfetzen aus der Schule ein, eine Gedichtzeile oder ein Satz aus einem Bio-Buch, ich weiß nicht mehr: ‚Bestimmte prähistorische Wesen schwimmen auch nach dem Aussterben weiter.‘“

Karen Russel nimmt nichts davon wieder zurück, sie bleibt völlig innerhalb der geheimnisvollen, furchteinflößenden, surreal erweiterten Albtraumgegenwart der Kinder, bietet nirgendwo eine rationale, erwachsene Erklärung an. Das Verstörungspotenzial dieser Erzählungen ist deshalb so groß, weil sie dem Leser diese Perspektive nach allen Regeln der Imaginationskunst aufzwingt: „Es sind wortlose, wilde Laute, ein tierischer Schmerz, der sich nicht zügeln und einem Sinn zuführen lässt. Es erinnert mich daran, wie Mr. Oamaru einmal ein Rentierkalb mit zwei Köpfen erschießen musste und einen schrecklichen Augenblick lang beide Köpfe gemeinsam brüllten. Sie sangen sich über irgendeine abscheuliche Schwelle.“

„Schlafanstalt für Traumgestörte“ ist ein modernes Märchenbuch. Auch insofern, als die Autorin sich bisweilen alte Mythenstoffe parodistisch anverwandelt. Etwa wenn sie in „Die Wolfsmädchen vom St.-Lucia-Heim“ die Kinder von Werwölfen auf eine Nonnenschule schickt, in denen ihnen mit sanfter und manchmal eben auch grober Gewalt die wölfische Herkunft aberzogen wird – die peinlichen Ähnlichkeiten mit einem anderen Umerziehungslager, das uns alle zu funktionierenden, mehr oder weniger konformen Gesellschaftswesen dressiert hat, sind durchaus beabsichtigt. Oder wenn Russel, ein famoser Einfall, zwei Mythen wie in einer Doppelbelichtung übereinander blendet: Ein Minotaurus aus dem Osten, der unter Menschen lebt und entsprechend diskriminiert wird, schließt sich mit seiner Familie einem Treck in den Wilden Westen an und begibt sich selbst ins Joch, zieht den Planwagen mit ihren Habseligkeiten ins gelobte Land.

Dass man die Assimilationsprobleme, Passionen und Glücksmomente sogar dieser Fabelwesen absolut ernst nimmt, dass man den parodistischen Impetus immer wieder vergisst, wenn Russel ihre hybriden Helden agieren lässt, stellt ihre narrative Überzeugungskraft unter Beweis. Ein brillantes Debüt. FRANK SCHÄFER

Karen Russel: „Schlafanstalt für Traumgestörte“. Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch. Kein & Aber, Zürich 2008, 302 Seiten, 18,90 Euro