Macht kaputt, was euch kaputt macht

Mehmet Scholls Lieblingsband: Irgendwas mit Kicken hatte man sich dann auch für das Berlin-Konzert der Hidden Cameras erwartet. Doch dann meuchelte der Münchner Fußballchor die Band und es folgte das große Happening

Die Band betritt die Bühne, artiger Applaus, die Band spult ihr Programm ab, man trinkt Bier und wackelt mit dem Kopf, die Band tritt ab. Sie kommt wieder, folgt die obligatorische Zugabe, ein Hit, das Publikum zeigt halbwegs zufriedene Mienen, Applaus und endgültiger Abgang. So läuft es normalerweise bei einem durchschnittlichen Indierockkonzert.

Nicht so beim Auftritt der Hidden Cameras am 1. Mai in der Maria am Ostbahnhof, der nicht anders als denkwürdig genannt werden muss. Man konnte am Ende in vor Glück verdatterte Gesichter im Publikum blicken. Konzert? Nein, nein, ein Happening, eine wilde Party, ein echtes Spektakel.

Für die Konzerte der aktuellen Tour der Hidden Cameras hat sich die lustige Zirkustruppe rund um den schwulen Mastermind Joel Gibb mit dem sogenannten „Münchner Fußbalchor“ zusammengetan, einem extra zu diesem Zweck zusammengetrommelten Haufen an Münchner Szenegrößen aus der Gay-, Kunst- und Musiksubkultur der bayerischen Stadt. Gemeinsam war die zwei Fußballmannschaften große Schar bereits beim Abschiedsspiel des bekennenden Indierockfans Mehmet Scholl im Münchner Olympiastadion aufgetreten. Dem bekanntermaßen extrem schwulenfeindlichen Profifußball eine queere Combo wie die Hidden Cameras vorgesetzt zu haben, war eine durchaus subversive Geste Scholls.

Irgendwas mit Fußball hatte man sich dann auch für das Berlin-Konzert der Hidden Cameras erwartet, die ihre Musik selbst als „Gay Folk Church Music“ bezeichnen, ein Wortkonstrukt, das das religiöse Pathos des Hidden-Cameras-Pop samt dessen verspielter Folkpop-Note ganz gut umschreibt. Doch der aus Toronto stammende und zeitweilig in Berlin lebende Joel Gibb hatte erneut alle überrascht. Der Münchner Fußballchor trat in Berlin nicht im Sportdress auf, sondern als Totenchor, als schwarz-weiß geschminkte Leichen, die sich im Hintergrund hielten, ein wenig mitsummten, während vorne die Band, dieser wilde Haufen von genialen Dilletanten, Streichern und Synthiequetschern, ihr Programm durchzog. Bis der Chor genug davon hatte, so unbeachtet da hinten herumstehen zu müssen. Es kam zu einem theatralischen Massaker der eigentlichen Band, der Chor übernahm das Kommando, schnappte sich die Instrumente und stimmte eine Kakophonie direkt aus dem Hades an. Und damit begann dieser große Konzertabend erst so richtig.

Die ganz große Show, schon weil daraufhin ja alles durcheinanderlief und eventuelle Bedeutungen, Symboliken, Metaphern, gnadenlos gegen die Wand gefahren wurden. Die tote Band kehrte wieder, trug rote Augenbinden, um noch toter als tot zu wirken, dann machte der sowieso tote Fußballchor den Abgang, indem sich seine Mitglieder, einer nach dem anderen, in die Hände des Publikums begaben und sich vom ihm tragen ließen wie Tote vom Wasser des indischen Ganges.

Ende der Szene. Der Vorhang ging erneut auf. Zwei Dutzend Menschen standen erneut auf der Bühne und von da an folgte Höhepunkt auf Höhepunkt. Der „Ketchup Song“-artige Mitmach-Move etwa, bei dem jeder im Publikum die Arme in die Höhe riss, so wie es von ihm verlangt wurde. Dann die discoartige Hymne, bei der man sich fühlte wie 1979 in New York. Joel Gibb wirkte irgendwann wie der Führer einer Sekte, der alles im Griff hat. Seine sonore Stimme versagte in keinem Moment, geradezu magisch wirkte es, wie das Tohuwabohu auf der Bühne samt permanentem Instrumentenwechsel von ihm als ruhendem Pol zusammengehalten wurde. – Bevor, ganz zum Schluss, sein Gebell die bunte Harmonie zerstörte, ein Gebell, das bald als „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ identifiziert werden konnte und einen stärker daran erinnerte, dass ja 1. Mai war, als all die Revolutionsfolklore am Nachmittag in Kreuzberg.

ANDREAS HARTMANN