Die schweigenden Helfer

Der Hamburger Jude Herbert Löwy überlebte den Holocaust, weil ihn Freunde und Fremde versteckten. Jetzt ist sein Bericht aufgetaucht – ein für Norddeutschland extrem seltenes Dokument. In der Forschung sind die Helfer bislang kaum Thema

VON PETRA SCHELLEN

Es gibt nicht viele solcher Dokumente, und im Hamburger Raum schon gar nicht: Vor einigen Wochen hat Gertrud Beye ein extrem rares Schriftstück, das sie in den 80ern im Nachlass ihrer Mutter fand, in einem Hamburger Stadtteilarchiv abgegeben. Es ist der 1948 verfasste Bericht des Hamburger Juden Herbert Löwy.

Löwy war Krankenpfleger, führte eine glückliche Ehe und hatte drei zufriedene Kinder. Sie hatten nicht viel, aber sie kamen aus. 1933 zersplitterte sein Leben: Ab sofort durfte gegen ihn gehetzt werden. Zunächst waren die Kollegen fair, die Familie konvertierte gar zum Judentum. Er wurde entlassen, baute sich aber schnell eine freiberufliche Existenz auf. Doch mit der Zeit wurde es wegen der Razzien und der Nachbarn gefährlich. „Meine Familie beschloss für mich die Flucht“, schreibt er. Es folgten etliche Unterschlüpfe bei Freunden und fremden Helfern. Sie verbargen ihn, halfen ihm an Gestapo-Streifen vorbei, riskierten selbst ihr Leben.

Eine von ihnen war Louise Müller, die Tante Gertrud Beyes. Sie verschanzte Herbert Löwy in den letzten Kriegstagen mehrere Monate lang in ihrem Haus auf dem Land. Grund für Löwy, all dies zur Erinnerung und zum Dank detailliert aufzuschreiben.

Es ist ein Bericht, eigentlich eine Beichte geworden; Löwy schreibt emotional und entwaffnend ehrlich über sich selbst. Ein Dokument ist entstanden, das von einem Mann handelt, der sich durch die Härten der Flucht vom Träumer zum Überlebenskünstler entwickelte. „Wir haben nicht gewusst, dass meine Tante einen Juden versteckt hatte“, sagt ihre Nichte. In der Familie sei nie darüber gesprochen worden. Herbert Löwy – er starb 1969 – hat sie noch gekannt. Kurz nach dem Krieg habe er der Familie Schuhe gebracht, „als Dank für die Aufnahme damals. Das war zu der Zeit, als es normalerweise keine Schuhe im Laden zu kaufen gab.“ Genaueres wusste sie nicht.

Schweigen – ein typisches Muster der heimlichen Helfer, über die wenig bekannt ist. Solche Berichte seien extrem selten, sagt auch Beate Meyer vom Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden. „In Hamburg gibt es vielleicht zwei solcher Dokumente“, bestätigt Ulrike Hoppe vom Stadtteilarchiv Bramfeld, die den Text in Empfang nahm.

Über die mutmaßliche Zahl weiterer Überlebendenberichte weiß man wenig. „Unsere wichtigsten Quellen sind die Anträge auf Entschädigung, die Überlebende nach dem Krieg gestellt haben“, sagt Claudia Schoppmann von der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Sie bereitet derzeit eine Ausstellung über die Retter verfolgter Juden vor. „Den Entschädigungsanträgen hatten die Betroffenen – oft schon 1945 verfasste – Erfahrungsberichte beigefügt.“

Trotzdem sei dies ein weitgehend unerforschtes Feld. „Das liegt auch daran, dass bislang eher über Opfer und Täter geforscht wurde als über die Helfer“, sagt Linde Apel. Sie arbeitet in der „Werkstatt der Erinnerung“ der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte. „Außerdem muss man immer bedenken, dass sich die Forschung relativ wenig für die Helfer interessiert hat.“ Ob dies – und die Tatsache, dass Berichte über Helfer nur zögerlich ans Licht kommen – auch damit zu tun hat, dass es bislang als politisch inkorrekt galt, angesichts der Opferzahlen die Geretteten zu befragen? „Möglich wäre es“, sagt Apel. „Aber man muss auch bedenken, dass das Sprechen darüber auch für die Überlebenden problematisch ist. Sie hegen wegen ihres Überlebens oft große Schuldgefühle und können erst viele Jahre später darüber sprechen.“

Im Archiv der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte finden sich 1.500 Interviews mit Überlebenden. Die meisten stammen aus Berlin. „Das liegt einerseits daran, dass die jüdische Gemeinde dort größer war als etwa in Hamburg, weshalb mehr Juden in den Untergrund gingen. Die Verbindungen zwischen Juden und Nichtjuden waren dort sehr gut, so dass sie darauf zurückgreifen konnten.“

Unter den derzeit bekannten Erfahrungsberichten wiederum stammten die meisten von Juden, die bis 1943 / 44 untertauchten. Etliche nutzten das Chaos der Bombenangriffe dieser Jahre, um in andere Gegenden zu fliehen und ihre Identität dort zu verschweigen. „Über die, denen es noch nach 1944 gelang unterzutauchen, weiß man sehr wenig“, sagt Ulrike Hoppe.

Überhaupt sind Dokumente Überlebender in Norddeutschland rar. Die Datenbank der Gedenkstätte Deutscher Widerstand listet für Bremen einen Fall auf, für Schleswig-Holstein zwei, für Niedersachsen neun. In Mecklenburg-Vorpommern sind es wesentlich mehr: Von 22 geretteten Juden weiß man dort, was laut Schoppmann wohl an der Nähe zu Berlin liegt. „Berliner Juden sind oft ins Umland flohen – nach Brandenburg oder nach Mecklenburg-Vorpommern.“ Wobei man immer wissen müsse, „dass zwei Drittel der Untergetauchten nicht überlebten“.

„Eine verschwindend geringe Minderheit“, sagt auch Hoppe. Deshalb sei auch das Sprechen über die Geretteten brisant: „Wir wollen keinesfalls als Feigenblatt dienen. Als Rechtfertigung derer, die sagen, die Deutschen waren ja gar nicht so schlimm“, sagt sie. „Es muss immer klar bleiben, dass das Einzelfälle enormer Zivilcourage waren.“ Deren Protagonisten waren oft unauffällige „kleine Leute“, die dies für selbstverständlich hielten und sich nicht damit brüsteten. Trotzdem sind einige von ihnen bekannt. Mehrere hundert hat zum Beispiel die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

Unter dem Titel „Meinen Dank für die Rettung will ich nun abtragen …“ findet heute um 20 Uhr im Hamburger Ernst Deutsch Theater eine szenische Lesung aus dem Text Herbert Löwys statt