ausgehen und rumstehen
: Den vernachlässigten Geist von Schwermut befreien

Für den Schreiberling könnte es ein glücklicher Zufall werden, dass sein verlängertes Ausgeh-Wochenende auf die Walpurgisnacht und den 1. Mai fällt. So könnte er nämlich die banalen Partyerlebnisse mit weltpolitischen Themen verbinden und auf die ein oder anderen Missstände eingehen. Da der 1. Mai in Berlin jedoch leider schon lange seine politische Bedeutung verloren hat, muss man nicht ganz so dick auftragen. Die Grenzen zwischen Revolution und Bratwurst verlaufen an diesen Tagen fließend. Aber so ’ne Bratwurst hat ja auch, spontan betrachtet, mehr Vorteile. Dementsprechend hat die Stimmung in Kreuzberg auch mehr den Anspruch des Werderaner Baumblütenfests.

Als um 20.38 Uhr die ersten Flaschen fliegen, beruhigt ein Einheimischer im Vollsuff die in Panik verfallenden Neuberliner Freunde mit der Botschaft: „Wenn ihr mich zum Auto tragt, fahr ich euch nach Hause!“ Ein vogelgesichtiger Polizist macht Umstehende darauf aufmerksam, dass unweit des kleinen Scharmützels „immer noch ein spannendes Kulturprogramm auf der Bühne am Oranienplatz stattfindet“, welches man nicht versäumen sollte. Die Stammgäste der Eckkneipen ignorieren die kilometerlangen Schlangen vor ihren „Stammtoiletten“, und ein gesichtstätowierter Rocker in der Roten Harfe lacht nur müde, als sich verhaltener Protest gegen sein Vordrängeln regt.

So weit, so gut. Am nächsten Tag gilt es erst mal, den weniger mutigen Bekannten aus Köln die Überreste der Nacht zu präsentieren. Einige Japaner fotografieren sich vor der zersplitterten Scheibe einer Haltestelle, als wenn es so etwas in Japan noch nie gegeben hätte. Nach diesen Strapazen braucht man dringend ein Kontrastprogramm zu zwei Tagen Grillgeruch und Glasscherben, also auf in das zum Touristenclub verkommene Cookies in der Friedrichstraße. All die Türsteher und wichtigen bis sehr wichtigen Menschen lassen einen schnell wieder ankommen in der surrealen Berliner Partywelt. Hier haben die meisten überhaupt nichts mitbekommen von den vorangegangenen Ereignissen.

Warum auch? Bei jedem Fischerstreik in Marseille gibt es größere Schäden zu beklagen als bei diesem – von der Boulevardpresse immer wieder als „Terrortag“ titulierten – „revolutionären“ Biertrinken. Folgerichtig konzentrieren sich ausländische Besucher eher auf die Frage, was diese merkwürdigen Plakate überall zu bedeuten hätten und warum die Berliner „einen Flughafen wählen“?

Kann ich ihnen leider auch nicht beantworten. Nach dem fünften Wodka Red Bull wird diskutiert, ob das Votum der Ostbezirke gegen Tempelhof die Rache für den Abriss des Palastes der Republik war. Ohne daran glauben zu wollen, bescheinigt man dem möglichen Racheakt geradezu historische Genialität. In einem Staat, in dem fünf Prozent der Einwohner die Kuckucksuhr für die größte Errungenschaft ihres Landes halten, kann man auch mal eine unsinnige Diskussion über einen Flughafen zur Abstimmung über Gut und Böse hochpuschen.

Als ein Brite beim erneuten Wodkabestellen nicht aufhören will, das Emblem meines England-Trikots zu küssen, flüchte ich nach Hause. Am Alexanderplatz grölen zwielichtige Gestalten „2. Mai – es ist nicht vorbei!“ und werfen todesmutig leere Bierflaschen in den Brunnen. Man fragt sich, warum sie sich nicht auf den Weg nach Potsdam oder Nürnberg gemacht haben, wo es, wie jedes Jahr zum Herrentag, wieder Massenschlägereien mit unzähligen Verletzten gab. Bei all dem Gemecker über die heutige Partygeneration weiß ich es zu schätzen, dass ich den Stress der Wochentage in einem infantilen Feierritual abschütteln kann. Andere warten ganze zwölf Monate darauf, sich mit – zu Robocops mutierten – Polizisten anzulegen oder auf Festwiesen gegen die benachbarte Dorfjugend anzutreten, um den vernachlässigten Geist von Schwermut zu befreien. Lang lebe das revolutionäre Ausgehen und Rumstehen. JURI STERNBURG