„Die Zwei-Staaten-Lösung ist eine Illusion“

Die Situation für das de facto geteilte Palästina ist furchtbar, nichts weist auf Besserung hin. Die Autonomieregierung ist nur dazu da, die Beamten zu bezahlen. Jetzt droht eine Intifada mit sehr viel mehr Gewalt, sagt Nazmi Jubeh

NAZMI JUBEH, geb. 1955, ist Professor für Archäologie und arbeitet derzeit am Riwaq-Zentrum für Denkmalschutz in Ramallah. Er studierte Archäologie und Orientalistik und habilitierte schließlich in Tübingen. 1991–1993 war er Mitglied der palästinensischen Delegation für die bilateralen Friedensverhandlungen in Washington, D.C. Von 1997 bis 1999 leitete er die historische Fakultät an der Birzeit-Universität in Ramallah.

taz: Herr Jubeh, wird es in diesem Jahr noch einen israelisch-palästinensischen Rahmenvertrag geben?

Nazmi Jubeh: Ich glaube nicht. Israel ist ja in einer recht komfortablen Lage. Die paar Raketen aus Gaza ändern nichts am Leben in Israel. Und während im Westjordanland die israelischen Siedlungen weiter ausgebaut werden, versinkt der Gazastreifen weiter in der Isolation.

Was bedeutet es für Präsident Mahmud Abbas, wenn er keinen Vertrag vorweisen kann, bevor er im kommenden Jahr aus dem Amt ausscheidet?

Ich glaube, er wird sich freuen, wenn er das Amt verlassen kann. Er will ja gar nicht regieren. Und er hat auch nicht regiert. Er ist ein großer Taktiker, der es versteht, Zeit zu schinden. Aber er war nicht bereit, historische Entscheidungen zu treffen. Die gegenwärtigen Gespräche zwischen Israels Premier Ehud Olmert und Abbas sind ein großes Schauspiel. Ziel ist entsprechend auch nicht ein Friedensvertrag, sondern ein Rahmenvertrag für einen Friedensvertrag. Und das ist ein modernes Wort für das Oslo-Abkommen. Das brauchen wir aber nicht. Das hilft uns nicht. Wir brauchen auch keine Verhandlungen darüber, hier und dort einen Checkpoint aufzulösen. Sondern wir brauchen Verhandlungen über die wesentlichen Punkte wie Grenzen, Siedlungen und die Sicherheit.

Was bedeutet das für das palästinensische Machtgefüge?

Alle Versuche, eine Einigung zwischen Fatah und Hamas zustande zu bringen, sind gescheitert. Ich bin nicht sicher, ob beide Seiten überhaupt ein Abkommen erreichen wollen. Hamas befindet sich ebenfalls in einer bequemen Situation in Gaza, wenigstens sofern die Belagerung etwas gelockert wird. Man hat dort ein Hamasistan. Dieses kann Hamas als Pilotprojekt für einen modernen islamischen Staat verkaufen.

Wie lange kann diese Situation andauern?

Israel kontrolliert derzeit rund 40 Prozent des Westjordanlandes durch Siedlungen, Sicherheitszonen, Naturreservate und die Mauer. Uns bleiben nur die Städte und Dörfer, die voneinander isoliert sind. Ohne einen Zusammenschluss von Westjordanland und Gazastreifen aber können keine Wahlen stattfinden. Wir haben jedoch auf palästinensischer Seite zwei „Staaten“, einen im Westjordanland, der jederzeit von Israel zu kontrollieren ist, und einen im Gazastreifen, der von Israel abgeriegelt ist. Die palästinensische Regierung ist nur dazu da, die 150.000 Beamten zu pflegen und zu bezahlen. Irgendwann wird natürlich alles implodieren.

Demnach sollte man die Autonomieregierung lieber auflösen?

In unserer Gesellschaft wird jetzt darüber diskutiert, ob eine Zwei-Staaten-Lösung überhaupt sinnvoll, logisch und hilfreich für uns ist. Dies ist keine Intellektuellendebatte mehr, sondern das interessiert inzwischen breite Schichten. Die Zahl derjenigen, die nicht mehr an eine Zwei-Staaten-Lösung glaubt, wächst täglich.

Sie wollen die Verantwortung an Israel zurückgeben?

Nicht nur an Israel, auch an die UNO. Davor zittern Freunde und Feinde, Israel, Jordanien, Ägypten, die Europäische Union, die USA. Sie alle proklamieren jetzt die Zwei-Staaten-Lösung als die einzig realistische Möglichkeit. Aber den Preis, den ein solcher Staat erfordert, den will niemand bezahlen. Auch wir selbst sind nicht bereit, den Preis, den Israel von uns fordert, zu bezahlen. Andererseits sehe ich keine israelische Regierung, die bereit wäre, auch nur ein paar Siedlungen im Westjordanland aufzulösen.

Das sieht für die nähere Zukunft recht düster aus?

Die Zukunft bedeutet für uns mehr Armut, mehr Arbeitslosigkeit, vielleicht auch eine neue Intifada mit sehr viel mehr Gewalt, mit brutalerer Gewalt. Wir verlieren täglich Dutzende Menschen, die Palästina verlassen. Nur die einfachen Arbeiter bleiben zurück. Ärzte, Lehrer, Ingenieure gehen in die Golfstaaten. Die Lage bei uns wird sich nur verschlimmern. Es gibt nichts, das den Menschen Hoffnung geben kann. Denn es fehlt jede Voraussetzungen für eine grundlegende Veränderung.

Sehen Sie denn auf israelischer Seite keine Bundesgenossen für den Frieden?

Wir haben viele Genossen. Aber sie sind marginalisiert. Sie stehen nicht im Zentrum der politischen Entscheidung. Ich sehe viele Israelis, die wirklich Frieden brauchen und wollen. Politisch aber verhält es sich so, dass die meisten Israelis links denken, aber rechts wählen. Mit der israelischen Linke oder den Liberalen sind wir uns mehr oder weniger einig über die Lösungsmöglichkeiten. Aber sie haben nicht die politische Macht.

INTERVIEW: GEORG BALTISSEN