Lobpreis nur noch dissonant

Niedergang der Kirchenmusik: Wie am Dom gibt es auch in Gemeinde St. Pauli seit Monaten Streit um den Kantor – Bauherren wollen weniger anspruchsvolle Kirchenmusik und mehr Gemeindearbeit

von KLAUS WOLSCHNER

Vor ein paar Monaten war für den Landeskirchenmusikdirektor Ansgar Müller-Nanninga die Welt noch in Ordnung. Trotz des schon laufenden Konfliktes um den Domkantor und den Kantor in Horn sah er die Kirchenmusik „in einem guten Fahrwasser“.

Heute würde Müller-Nanninga das nicht mehr so sagen. Das Wahlverfahren für den Nachfolger des Domkantors Wolfgang Helbich, der gern noch ein paar Jahre „drangehängt“ hätte, bezeichnete Müller-Nanninga in der Kirchenzeitung BEK-Forum als „nicht nachvollziehbar“. Nicht nur bei der Domgemeinde, auch bei St. Petri hat der Gemeindevorstand sich gegen das fachlich begründete Votum des Landeskirchenmusikdirektors und auch gegen das eindeutige Votum des Chores entschieden. Es sei absehbar, dass ein unter solchen Umständen gewählter Nachfolger „nur einen Scherbenhaufen“ vorfinde, formulierte Müller-Nanninga. Die Bremische Evangelische Kirche (BEK) müsse in solchen Fällen „Einspruchsmöglichkeiten“ haben.

Im Hintergrund geht es um einen weitreichenden Konflikt: Offenbar wollen verschiedene bremische Gemeinden angesichts der prekären Haushaltslage bei der anspruchsvollen Kirchenmusik sparen. Und die BEK finanziert zwar die Kantorenstellen mit, hat aber keinerlei Recht, mitzuentscheiden. „Wir erleben einen Rückzug der Kirche in die Frömmigkeit“, sagt ein betroffenes Chormitglied. Das sei für die Musik ein großer Rückschlag, aber auch für die Kirche: Sie verzichte auf Angebote, die auf ein breiteres Interesse stößen.

Ein Mitspracherecht des Kirchenmusikdirektors würde sich zum Beispiel der Bauherr von St. Pauli, Claus Ostermann, in aller Form verbitten. Seit dem 1. Mai steht die Gemeinde in der Neustadt wegen ihres Kantoren-Konfliktes ganz ohne Musiker da. Die Konfliktlage sei „ähnlich wie beim Dom“, sagt der Verwaltende St.-Pauli-Bauherr Ostermann.

Als vor acht Monaten die renommierte Kirchenmusikerin Sigrid Bruch in den Ruhestand ging, sah der Kirchenvorstand darin eine Chance. „Wir als Gemeinde fühlten uns immer zurückgesetzt“, beschreibt Ostermann das vorherrschende Gefühl. Die Kantorin suche Anerkennung in Musikerkreisen, stecke ihre Arbeitskraft in große Oratorien – „und hat sich zu wenig um die Gemeinde gekümmert“. Der Konflikt eskalierte, als die Kantorei von St. Pauli in der Kirche Unser Lieben Frauen auftrat – „das haben wir dann untersagt“, so Ostermann. Im Gottesdienst habe die Kantorei unter Sigrid Bruch nicht gesungen.

Die Stelle war ausgeschrieben worden, Karin Gastell und Jörg Jacobi, die als „Vertretung“ engagiert und im Chor anerkannt sind, bewarben sich, auch der BEK-Musikdirektor war dafür. Der Gemeindevorstand entschied sich dennoch für eine andere Bewerberin – nicht wegen deren musikalischer Qualifikation, sagt Bauherr Ostermann, sondern weil sie „mehr Gemeindearbeit“ versprach. Und weil große Konzerte teuer sind.

Im Chor hatte die ausgesuchte Bewerberin keine einzige Stimme erhalten. Die Empörung war groß, der Chor der St.-Pauli-Kantorei sucht inzwischen in der Matthias-Claudius-Gemeinde Unterschlupf für seine Proben.

„Wir haben in den acht Monaten gezeigt, dass gute Musik und Gemeindearbeit kein Gegensatz sind“, beteuert Jörg Jacobi. Etwa bei der Gestaltung des Ostergottesdienstes sei der Chor aufgetreten. Auch ein „Kinder-Musical“ sei aufgeführt worden. Kann eine Gemeinde mehr wollen?

Das muss sich in den nächsten Wochen zeigen. Denn die ausgewählte Bewerberin hat abgesagt. Man werde nun das Gespräch suchen, sagt Ostermann. Noch ist bei St. Pauli nicht alles Porzellan zerschlagen wie im Dom. Am 22. Mai wird der Domchor unter Helbich das Brahms-Requiem singen, das dort 1868 uraufgeführt wurde. Eine offizielle Verabschiedung des Kantors wird es nicht geben.