„Sechs Jahre sind längst die Norm“

Der Bildungsexperte Jürgen Oelkers von der Uni Zürich ist für eine sechsjährige Grundschule: Dort komme allen Kindern breitere Basisbildung zu. In der Schweiz seien damit gute Pisa-Ergebnisse erreicht worden

JÜRGEN OELKERS, 60, studierte in Hamburg und lehrte Pädagogik in Lüneburg. Seit 1999 Lehrstuhlinhaber an der Uni Zürich.

taz: Herr Oelkers, Sie gehören zu den Bildungsforschern, die Hamburgs Plan für eine sechsjährige Grundschule begrüßen.

Jürgen Oelkers: Ich begrüße eine sechsjährige Primarschule, die nicht die jetzige Grundschule um zwei Jahre verlängert, sondern die ein vollkommen neues Modell darstellt.

Was spricht für eine Dauer von sechs Jahren?

Nur in Österreich und Deutschland gibt es noch die vierjährige Grundschule. In der EU sind sechs Jahre Primarschule längst die Norm. In der Schweiz stellt gerade der letzte Kanton auf sechs Jahre um. Der Auftrag ist, gemeinsame Bildungsziele zu erreichen sowie gleichermaßen leistungsstarke und schwache Schüler zu fördern.

Es gibt die Furcht, dass leistungsstarke Kinder zu wenig gefördert werden.

Dann müssten ja unsere Schweizer Schulen das nicht können. Aber das ist seit Jahrzehnten kein Thema.

Wie hat denn die Schweiz bei den Pisa-Tests abgeschnitten?

In Mathematik sehr gut, in den Naturwissenschaften zunehmend besser. Das Problem ist Lesen, vor allem bei Jungen und bei Schülern, die schlecht Deutsch sprechen. Leseförderung ist eine der neuen Aufgaben für die Schule. In der Schweiz gibt es für die Entwicklung von Deutschkenntnissen und Elternarbeit mit Ausländern gezielte Programme und zusätzliche Ressourcen. Es reicht nicht aus, einfach nur die Grundschule um zwei Jahre zu verlängern. Aber das ist ja nun auch nicht vorgesehen, im Gegenteil.

Was ist eigentlich besser daran, Kinder nach sechs Jahren aufzuteilen statt nach vieren?

Nach unseren Erfahrungen gewinnt man mehr Zeit für ein Basisprogramm für alle. Der Selektionsdruck setzt später ein und wahrscheinlich werden auch die Entscheide besser. In Klasse sechs wirkt das anders als in Klasse vier. Übertritte sind dann nicht nur Elternentscheide: Die Kinder wirken mit, wie sich an den „Standortgesprächen“ in der Schweiz zeigt.

Aber dann werden sie in Hamburg künftig in Gymnasium und Stadtteilschule sortiert.

Ich bin kein Anhänger der selektionsfreien Gesamtschule – es muss aufgeteilt werden. Die Frage ist, zu welchem Zeitpunkt das geschieht und wie das Angebot beschaffen ist. Heute gibt es eine Aufteilung auf drei Schultypen, die sehr unterschiedlich attraktiv sind. Deshalb hat auch die bisherige Senatorin in Hamburg richtig erkannt, dass man in Zukunft zwei attraktive Schulzweige anbieten muss. Der eine ist das Gymnasium, der andere jetzt neu eine Stadtteilschule mit drei Abschlüssen.

Hamburg schafft das bisherige Elternwahlrecht nach Klasse vier ab. Finden Sie das richtig?

Man kann das Wahlrecht nicht einfach abschaffen, sondern sollte es neu definieren. In England, Schweden oder Dänemark wählt man die Schule und nicht den Schultyp.

Aber Eltern haben nun auch nicht mehr die Chance, ihr Kind ohne Empfehlung aufs Gymnasium zu schicken.

Man kann sich auch ein gemischtes Verfahren vorstellen. Die Eltern ohne Empfehlung melden ihre Kinder an, aber die Schulen entscheiden nach einer Probezeit, ob die Leistungserwartungen erfüllt wurden oder nicht. Heute erfolgt die interne Selektion der Gymnasien in der achten und neunten Klasse, aber darüber wird wenig geredet. Hier würde man in dem neuen System einiges gewinnen.

INTERVIEW: KAIJA KUTTER