„Wir greifen die Gymnasien nicht frontal an“

Schleswig-Holsteins Grüne sehen die Gemeinschaftsschule auf dem Vormarsch. Damit kein Zwei-Klassen-System entsteht, fordert ihr Fraktionschef Karl-Martin Hentschel die absolute Gleichberechtigung mit dem Gymnasium

KARL-MARTIN HENTSCHEL, 58, ist Schulpolitiker und Vorsitzender der Grünen-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag.

taz: Herr Hentschel, Schleswig-Holsteins Grüne galten einmal als Vorreiter in Sachen Schule für alle. Jetzt regiert Schwarz-Rot im Land, und die Gemeinschaftsschule wird zum Renner. Wurmt Sie das?

Karl-Martin Hentschel: Überhaupt nicht, ich freue mich. Es war ein Betriebsunfall der großen Koalition, dass sie den Kommunen überlassen hat, über die Schulform zu entscheiden. Die CDU hoffte, so die Gemeinschaftsschulen zu blockieren. Doch die Mehrheit der Eltern will Gemeinschaftsschulen. Und auch viele Gemeindebürgermeister bemühen sich darum, weil sie die Kinder im Ort halten wollen und daher an Schulen interessiert sind, die zum Abitur führen. Die Sache kippt: Am Ende werden wir nur Gymnasien und Gemeinschaftsschulen haben.

Sind Sie da nicht zu optimistisch? Es gibt ja noch die dritte Variante, die Regionalschule: Dort können Kinder in getrennten Wegen den Haupt- und Realschulabschluss machen. Schulen, die bis 2010 keinen Antrag stellen, werden Regionalschule.

Bei der ersten Anmelderunde haben zwölf Regionalschulen keine Genehmigung erhalten: Weil die Eltern ihre Kinder dort nicht anmelden. Hinzu kommt, dass jetzt im Mai Kommunalwahlen anstehen, bei denen die CDU vermutlich ihre flächendeckende Mehrheit verliert. Egal, wie die Kommunen dann regiert werden: Es wird überall Gemeinschaftsschulen geben. Wir werden als Fraktion deshalb beantragen, dass die Regionalschulen in Gemeinschaftsschulen überführt werden.

Läuft das nicht am Ende auf ein Zwei-Klassen-System hinaus – hier das Gymnasium, dort die Gemeinschaftsschule?

Ja, die Gefahr besteht. Die meisten Gemeinschaftsschulen haben wenig für das Gymnasium empfohlene Kinder. Um dennoch unser Ziel einer Schule für alle bis zum 15. Lebensjahr zu erreichen, haben wir ein Konzept zur Weiterentwicklung des Schulsystems beschlossen. Wir greifen die Gymnasien nicht frontal an. Stattdessen fordern wir die Gleichstellung von Gymnasien und Gemeinschaftsschulen: gleiche Bezahlung und Arbeitszeit für Lehrer, gleich viel Unterricht für die Kinder. Außerdem wollen wir, dass die Kinder an allen Schulen nach Klasse 9 entscheiden können, ob sie Abitur nach 8 oder 9 Jahren machen.

Aufs Gymnasium kommen aber nur die dafür empfohlenen Kinder?

Um dem entgegenzuwirken, wollen wir einen Förderfaktor einführen: Die Schulen bekommen je nach Zusammensetzung der Schülerschaft zusätzliche Mittel. Das reizt die Gymnasien, sich auch um Schwächere zu bemühen. Und wir wollen die Schulartenempfehlung nach Klasse 4 abschaffen.

Sie sind in der Opposition. Sind Ihre Vorstellungen überhaupt durchsetzbar?

Das Modell ist Grundlage für Koalitionsverhandlungen nach der nächsten Landtagswahl 2010. Ich bin überzeugt davon, dass wir die öffentliche Debatte um dieses Konzept gewinnen können – egal ob es rot-grüne oder schwarz-grüne Mehrheiten gibt.

Wenn in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein die Regionalschulen wegfallen, könnte das ersatzlos geschehen.

Durch das neue System wird es die eine oder andere Schließung geben, aber insgesamt werden weniger Kinder fahren müssen. Bisher mussten sie zum Gymnasium oder zur Realschule in andere Orte. Wenn es nur noch gleichartige höhere Schulen gibt, entfällt das.

In Hamburg planen die Grünen eine sechsjährige Grundschule – eine Option für Sie?

Nein. Das Hamburger Modell wäre auf ein Flächenland nicht übertragbar. Man kann die Grundschulen nicht auf sechs Jahre aufstocken, wenn nicht weiterführende Schulen in der Nähe sind, mit denen sie kooperieren können. Zudem findet dann der Schulwechsel in der Pubertät statt, was ich persönlich für ungünstig halte.

Ihre Ideen kosten Geld. Woher wollen Sie das nehmen?

Allein dadurch, dass das Sitzenbleiben abgeschafft wird, werden Ressourcen frei. Wir brauchen aber noch mehr Geld für Bildung. Deswegen treten wir für eine grundlegende Verwaltungsreform ein und wollen das gesparte Geld für die Schulen ausgeben.

INTERVIEW: KAIJA KUTTER,
ESTHER GEISSLINGER