Vom Mammon der Buntheit

Der Schwerpunkt ist immer auf Höhe des Bauchnabels: Mark Rothkos Bilder arbeiten nicht nur offensiv mit Farbe, sondern auch mit Proportion und Raumwirkung. Eine große Retrospektive des 1970 Verstorbenen ist jetzt in der Hamburger Kunsthalle zu sehen

Schon die frühen Bilder verweigern sich der Dreidimensionalität – die hielt Rothko für „Betrug am Betrachter“

VON PETRA SCHELLEN

Ja, diese Bilder haben Persönlichkeit. Sie überrumpeln einen, umarmen einen, zwängen einen ein. Sie kommen einem entgegen, und das massiv, um sich wieder zurück zu ziehen – es ist ein bisschen wie Ebbe und Flut. Dabei sieht man sie ja nicht zum ersten Mal, diese Beispiele für den abstrakten Expressionismus Mark Rothkos, die jetzt in der Hamburger Kunsthalle gezeigt werden. Es ist – nach München – die zweite Station der Ausstellung und in einer so großen, 110 Blätter starken Retrospektive werden die Bilder in Europa wohl lange nicht mehr zu sehen sein.

Die teils riesigen Arbeiten wurden großzügig gehängt; vereinzelt gar kapellenartige Kleinst-Räume geschaffen. Was vor allem Rothkos Farbfeldern, den „multiforms“, angemessen Wirkung verschafft. Man solle meditieren vor seinen Bildern, hat Rothko selbst gesagt. Das kann man in Hamburg durchaus – falls einen die Massen lassen, denn an mangelndem Publikumsinteresse wird der zuletzt auf dem Kunstmarkt hoch gehandelte Rothko sicher nicht leiden. Ein Event also – für Leute, die gern gemäßigte Moderne angucken? Oder für Esoteriker und solche, die es werden wollen, zur Nabelschau?

Vielleicht kommen Besucher aus beiden Fraktionen, denn was Rothko tat, stellt sich auf den ersten Blick so gefällig dar: Als „Abstrakter“ wollte er nicht bezeichnet werden, weil ihm das zu künstlich war. Er ordnete den Farben Stimmungs- und Gefühlswerte zu und setzte auf das Live-Erlebnis, auf die „Hochzeit von Bild und Betrachter“.

Aber damit war kein schneller, flüchtiger Genuss gemeint. Der Betrachter sollte sich nicht am oberflächlich-Dekorativen ergötzen und bei der Bewunderung der schönen Farben stehen bleiben. Was Rothko antrieb, war wohl echte Spiritualität, auch wenn er selbst das so explizit nicht formulierte. Religiös erzogen war er durchaus: Sein Vater hatte ihn jüdisch erzogen, schon bevor die Familie 1913 vor Pogromen im damals russischen Dwinsk floh und das im US-amerikanischen Exil fortgesetzt. Marcus Rothkowitz besuchte eine Talmud-Schule, lernte Hebräisch und Jiddisch. 14-jährig soll Rothko, der erst ab 1958 offiziell diesen Namen trug, dann allerdings geschworen haben, keine Synagoge mehr zu betreten. „Trotzdem ist das Spirituelle Hintergrund seiner Arbeit“, glaubt Oliver Wick, der die aktuelle Ausstellung kuratiert hat. Allerdings wäre es Rothko nicht um Inhalte gegangen, gar Geschichten einer konkreten Religion, sondern um eine allgemeine Erfahrung – um Entgrenzung, um eine Ahnung von Jenseitigkeit vielleicht. Als Fenster in andere Dimensionen hinein lassen sich seine merkwürdig fluoreszierenden Multiforms lesen – ein Phänomen, das mit seiner lasierenden Maltechnik zusammenhängt und tatsächlich Tiefenwirkung erzeugt.

Rothkos künstlerische Anfänge indes waren weit weniger abstrakt und kein bisschen weltfremd: Großstadt-Szenen und Griechisch-Mythologisches hatte er während der Dreißiger- und frühen Vierzigerjahre gemalt, in seiner surrealen Phase. Mythologie war damals eine gängige Chiffre für das Grauen des Zweiten Weltkriegs. Auf einem unbenannten Blatt von 1941 ragen hagere Extremitäten ins Bild – nur vielleicht eine verfremdete Kreuzigung. Das formale Ziel allerdings war auch hier klar: Schon diese frühen Bilder sind perspektivisch extrem flach und verweigern sich der Dreidimensionalität, die Rothko für „Betrug am Betrachter“ hielt.

Dass ausgerechnet seine Ende der Vierzigerjahre begonnenen Multiforms fast plastisch wurden, wirkt dann fast schon ironisch: Die horizontal übereinander gelagerten Farbfelder suggerieren Körperlichkeit. Die Farben atmen, pulsieren, blähen sich auf und ziehen sich zurück, lassen den Blick über Stock und Stein springen. Es macht Spaß, zwischen den gefälligen Rot-Gelb-Tönen umherzuwandern – aber Rothko wollte weder Spiel noch Dekoration. Er wurde wütend, wenn jemand seine Vorhänge passend zu seinen Bildern aussuchte. Er wollte authentischen Dialog zwischen Bild und Betrachter.

Aber seine Bilder wurden immer teurer, der Druck des Kunstmarkts wuchs, die Menschen verstanden ihn nicht. Dachte er – und reagierte konsequent: Ende der Vierzigerjahre wurden die Farben dunkler, steigerten sich Ende der Sechziger zu den finalen „Black on Gray“-Gemälden. Gleichzeitig verschwanden die wolkig-verwaschenen Ränder, scharfe Kanten trennten jetzt die Farbfelder voneinander und vom Rand. Das Resultat schließlich: Gemälde, fast monochrom, schwarz auf schwarzem Grund. Die sich lange dagegen wehren, vorhandene Nuancen preiszugeben.

Die Welt scheint zugeschlossen auf diesen Bildern. Jeglicher Trost vorbei, Grau und Schwarz bilden ein verschlossenes Tor ohne Hoffnung. Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ hat die Hamburger Kunsthalle korrespondierend dazu geliehen. Die formale Parallele ist frappierend: Auch hier wird der Betrachter großflächig in den Bildraum hinein gezogen. Melancholisch bis depressiv wirken beide Varianten; Rothkos Blätter entstanden kurz vor seinem Tod. Bloß depressive Bilder, der schweren Krankheit des Künstlers geschuldet, der sich 1970 in seinem Atelier das Leben nahm? „Ich würde diese Blätter eher als Verweigerung deuten“, sagt Ausstellungsmacher Oliver Wick. „Als Absage an den Mammon der Buntheit“ – dieser, so Wick, habe die Betrachter vom Eigentlichen abgelenkt. „Als konsequenten Ausschluss von Farbe.“ Nun entsteht aus der Mischung sämtlicher Farben eine Art Grau. Und Schwarz wiederum ist das Gegenteil von Farbe, die Un-Farbe schlechthin. So gesehen sprechen die späten Bilder genauso beredet von der Farbe wie die frühen – nur, dass sie sich subtilerer Chiffren bedienen.

Abgesehen davon wollte Rothko nicht nur durch Farbe wirken, sondern auch durch Proportion. Für ihn war klar, dass ein Riesenformat den Betrachter vereinnahmt. Und an diesem Punkt kommt in der Hamburger Ausstellung ganz konkrete Sinnlichkeit ins Spiel. Denn ob Rothkos Bilder nun in zwei oder drei horizontale Farbfelder eingeteilt sind, eines ist ihnen gemeinsam: Der optische Schwerpunkt der tief gehängten Blätter ist immer auf Höhe des Bauchnabels. Ein Trick, mit dem Rothko Intimität zwischen Bild und Betrachter schaffen wollte.

Dass dies der Massenwirkung seiner Arbeiten zuwider lief, offenbart die Tragik eines Künstlers, der extreme Privatheit wollte und eine so öffentliche Figur wurde. Rothkos eigener Dialog mit seinem Publikum war hoch ambivalent: Er war stetig hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, die Wirkung seiner Bilder durch Hängung und Beleuchtung zu kontrollieren und der Erkenntnis, dass dies nicht mehr ging, sobald er sie weggegeben hatte. Eine Spannung, die sich für ihn, den Akribiker, nicht lösen ließ. Und eine Suche nach Gleichgewicht, die sich in seinem lebenslangen Versuch spiegelt, zwischen Farbe und Proportion seiner Bilder eine stabile Balance zu finden.

bis 24. August, Hamburger Kunsthalle