Alles für den Backwahn

Die Auswahl an Mehlsorten ist im Einzelhandel sehr überschaubar. Wer die Vielfalt sucht, wird im „Mehlstübchen“ fündig. Eigenbedarf gab den Anlass zur Gründung des Kreuzberger Ladens. Dort wird auf Wunsch auch individuell gemischt

Für Mehltypen gibt es noch keinen EU-einheitlichen Standard. Die deutsche Einteilung unterscheidet nach Mineralstoffgehalt. Angegeben wird dabei, wie viel Mineralstoffe übrig bleiben, wenn 100 Gramm Mehl verbrannt werden. Bei Type 405 sind das 405 Milligramm. Je höher die Typennummer, desto nahrhafter das Mehl. Man unterscheidet glattes, griffiges und doppelgriffiges Mehl („Dunst“), je nachdem wie fein das Mehl gemahlen ist, was auch die Wasseraufnahme des Mehls beeinflusst. Grieß ist die nächstgröbere Stufe nach Dunst. LS

VON LISA SHOEMAKER

Im Frühling, wenn die Temperaturen steigen, geschieht bei uns in der Küche Merkwürdiges: Plötzlich springt ein Familienmitglied scheinbar unmotiviert vom Stuhl auf, vollführt seltsame Verrenkungen in der Luft und klatscht dabei in die Hände – sehr zum Befremden eventuell anwesender Gäste –, während der Familienchor aufgeregt „Hast du sie?“ oder „Da, da!“ schmettert: Ephestia kuehniella, die gemeine (fiese, eklige) Mehlmotte, fliegt wieder.

Orientierungshilfe im Mehllabyrinth

Zeit, das Vorratsregal auszumisten: Ob die Ware befallen ist, erkennt man – neben den offensichtlichen Maden – an einem feinen Gespinst, das an Tütenrändern zittert, oder daran, dass bei Körnern feine Partikel auf den Tütenboden durchgerieselt sind. Packungen mit Mehl- und Getreideresten, eine im vergangenen Jahr aus vielen Quellen mühevoll zusammengetragene Sammlung, fliegen eine nach der andern in den Müll. Perlgraupen aus dem Reformhaus, Kichererbsenmehl zum Ausbacken indischer Pakoras aus dem Asien-Supermarkt, Kastanienmehl für Castagnaccio aus dem italienischen Feinkostgeschäft, aus dem Naturkostladen stammende Polenta (Maisgrieß), Maismehl für Tortillas, Buchweizenmehl für Blinis, gar nicht zu reden von Grieß sowie Dinkel-, Roggen- und Weizenmehl mit diversen Typennummern, doppelgriffiges Mehl von Lindenberg in Moabit für den perfekten Strudel.

Orientierungshilfe im Mehllabyrinth bietet seit anderthalb Jahren Nicole Kamrath im Mehlstübchen in der Schöneberger Leberstraße 28. Das Samenkorn zum Mehlstübchen wurde gelegt, als ihr Mitarbeiter Horst Müller die Diagnose „Diabetes“ erhielt. „Essen Sie Vollkornbrot“, lautete die Empfehlung des Arztes. Herr Müller zog los und probierte, was der Markt hergab, fand das Brot aber teuer und nicht wirklich überzeugend. „Selber machen“ war bald seine Devise, doch leichter gesagt als getan. Wollte er sich nicht mit 08/15-Ingredienzien begnügen, musste er bei Erzeugern bestellen. Da Mühlen jedoch nicht in jenen homöopathischen Mengen liefern, die ein Einfamilienhaushalt verbraucht, trafen bald regelmäßig 20-Kilo-Säcke in seiner Wohnung ein. Der Kreation eigener Mehlmischungen stand zwar nichts mehr im Wege, die Brote mundeten köstlich, allein es waren zu viele. Es musste verkauft werden, der Bekanntenkreis nahm dankbar ab, aber nicht zentnerweise, das Geschäft über eBay lief auch nicht schlecht, doch Frau Müller – wohl auch keine Freundin von Ephestia kuehniella – stellte das in solchen Fällen übliche Ultimatum: Mehl oder ich. Also musste ausgelagert werden. Und so entstand das Mehlstübchen.

Discounter führen lediglich das deutsche Allzweckmehl – Type 405 –, Supermärkte gelegentlich in der Bioschiene auch 550er- und Vollkornmehl. In besser sortierten Märkten stößt man vereinzelt auf Kuchen- oder Spätzlemehl, und das in angelsächsischen Ländern so beliebte self-raising flour, dem bereits Backpulver zugesetzt ist, steht auch schon in der Bückzone.

Für (fast) jeden Backanlass das passende Mehl

Im Mehlstübchen dagegen gibt es für (fast) jeden Backanlass das passende Mehl, meist selber zusammengestellt und getestet, nur die Baguettemischung kommt aus Frankreich. Für die schwäbische Seele, italienische Ciabatta oder Focaccia, Toastbrot oder Bauernkruste ist gesorgt, und wer seinen speziellen Wunsch noch nicht realisiert sieht, kann ihn äußern und erhält Rat. Das ist vor allem für Menschen mit Lebensmittelallergien oder -unverträglichkeiten wichtig. Hier bekommt jeder, was ihm guttut. Wer selber backen lernen will oder muss, kann zu zweit oder zu dritt einen individuellen Backkurs für 20 Euro pro Person buchen. Er erfährt Tipps und Tricks, wie man auch im heimischen Ofen ohne Profibedingungen ein gutes Brot backen kann, und bekommt zum Ausprobieren ein Kilo Mehlmischung mit, die nach seinen individuellen Bedürfnissen zusammengestellt wurde.

Um die eingangs erwähnte Plage loszuwerden, kann man Schlupfwespen, winzige Nützlinge, einsetzen, die weder stechen noch so aufdringlich sind wie ihre schwarz-gelb gestreiften Artgenossen. Bezugsquellen im Internet ergoogeln. Und fürs kommende Jahr: alles unter Schraubverschluss.

Mehlstübchen – Die Mehlmanufaktur, Leberstr. 28, 10829 Berlin, Tel. (0 30) 78 68 41 41, www.brotbackzutaten.de