Die Demonstration der Küsse

Am Tag gegen Homophobie knutschen gleichgeschlechtliche Pärchen vor dem Ring-Center in Lichtenberg. Sie fühlen sich ungewohnt sicher. Einige Passanten ziehen ungewohnt schnell vorbei

VON JOHANNES GERNERT

Es ist nicht gerade bestes Knutschwetter. Die abgasgrauen Wolken hängen tief über der Stadt. Aber die Fahnen der Einkaufspassage an der Frankfurter Allee wehen solidarisch in Rosa. Die zwei Jungs in Jeans und Shirts fangen also einfach schon mal an. Mitten auf dem Gehweg vor dem Ring-Center küssen sie sich ausgiebig und ausdauernd. Sie wirken dabei wie ein Posterpärchen. Ihr Motiv wäre eine tolle Schwarz-Weiß-Postkarte. Um sie herum stehen einige geschminkte Dragqueens und verteilen Flyer. Auf einem großen Plakat ist das Motto der Aktion zu lesen: Protect your Kiss. Am Internationalen Tag gegen Homophobie knutschen einige Pärchen an der belebten Lichtenberger Straße für mehr Toleranz.

Bastian Finke, der beim Verein Maneo das Schwule Überfalltelefon betreut, stellt sich vor das Plakat und hält eine kleine Ansprache. Mittlerweile haben ein paar mehr Pärchen zögerlich zu knutschen begonnen, schwule und lesbische. Finke erinnert daran, dass die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität erst 1990 von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen hat. „Seit 18 Jahren sind wir also nicht mehr krank“, ruft er. Schwule und Lesben, die in der U-Bahn oder auf der Straße Händchen hielten, würden aber immer noch häufig angepöbelt oder angegriffen. Deshalb nun dieses „Kiss-in“: gegen Gewalt. „Wo ist denn dein Knutscher?“, fragt eine Dragschwester Finke. „Kommt noch“, antwortet der.

Thomas Birk, der bei den Grünen im Abgeordnetenhaus für Lesben und Schwule spricht, ist auch da. In Jackett und Jeans sieht er sich die Sache an. Knutschen wird er heute nicht. Sein Freund sei gestern Nacht ein bisschen zu sehr abgestürzt. Im vergangenen Jahr, als die Aktion schon einmal stattfand, hatten sie mitgemacht. Im Alltag überlegt auch Birk, wo er die Hand seines Freundes nimmt. In Marzahn oder Hellersdorf sei er da eher zurückhaltend.

Seltsamer Angriff

Viele Übergriffe, das beobachtet Bastian Finke von Maneo, finden deshalb in Schöneberg statt, wo sich Homosexuelle im eigenen Kiez noch am ehesten offen zeigen. Auch Birk hat dort kürzlich einen seltsamen Angriff auf zwei Schwule erlebt. Die saßen nebeneinander in der U-Bahn, als zwei schwarze Frauen anfingen, sie zu beschimpfen und mit ihren Handtaschen auf sie einzuschlagen. Andere Fahrgäste haben sie zurückgehalten. An diesem Samstag vor der Lichtenberger Einkaufspassage sei das nun natürlich etwas anderes, sagt er. Da schütze einen die Öffentlichkeit, die Kameras, die Gruppe.

Tatsächlich sind die Verhältnisse auf den wenigen Quadratmetern für eine knappe Stunde umgekehrt. Neun Pärchen liegen sich auf dem Höhepunkt der Knutschperformance in den Armen. Auch zwei dicke Punklesben, eine im „Böhse Onkelz“-Shirt, die vom Einkaufen kamen, haben sich spontan dazugesellt. In dieser Minigesellschaft küssen jetzt Männer Männer, Frauen Frauen, und – ja, auch das – ein Mann eine Frau.

Die, die sonst skeptische Aufmerksamkeit abbekommen, sind vor allem mit sich selbst und mit den Lippen ihrer Freunde und Freundinnen beschäftigt. Die anderen, die so etwas gelegentlich durchaus abfällig betrachten, werden zur Minderheit. Wer hier als Passant vors Mikrofon des RBB-Fernsehteams gebeten wird, der findet das Ganze also in der Regel „völlig normal“. Das sind nicht wenige.

Schneller gehen

Die aber, die im Gesicht alles andere als Begeisterung tragen, schieben sich kommentarlos an den Küssdemonstranten vorbei. Plötzlich sind sie es, die die argwöhnischen Blicke spüren, die sonst eher auf den Männer- und Frauenpaaren lasten. Irgendjemand homophob hier? Man sieht bei einigen, wie ihnen das zu schaffen macht. Sie gehen immer schneller, bis sie die Toleranzzone verlassen und im Einkaufsgetümmel verschwinden.

Eine junge Frau, die mit ihrer Freundin und zwei Hunden gekommen ist, erzählt, dass es ein angenehmes Gefühl sei, sich heute so offen zeigen zu können. Sie sind sonst öfter hier zum Einkaufen und werden immer wieder seltsam angeschaut.

Sascha und Christoph, die als Posterpärchen einfühlsam-plakativ aneinandernagen, sagen dagegen, sie hätten in Berlin bisher noch keinen Ärger gehabt. Der eine ist 18, der andere 19. Einer kommt aus Dahlem, der andere aus Pankow. Dort steigen sie allerdings nachts manchmal eine Station früher aus, wenn sie Männer mit Glatzen im Abteil für Rechte halten, fällt ihnen dann ein. Ansonsten sind die Reaktionen gemischt, sagt Christoph. Jungs finden es meist eklig, wenn sie sich küssen, Mädchen dagegen niedlich. „Vielleicht finden sie das aus demselben Grund toll, weshalb Männer auch Frauenpornos mögen“, vermutet er. Sie kichern ein bisschen und machen Witze über ihre wunden Lippen. Dann knutschen sie weiter.