berliner szenen Loretta und ich

An der Küste

Wir standen an der Küste. Am Horizont ein schräger Strich, ein fernes Flugzeug, auf dem Boden Schilf, Planen, Sand. Loretta und ich streiften am Meer entlang, die Füße blank, wir redeten kaum, aber manchmal berührten wir uns flüchtig. Nach einer Weile erreichten wir einen Kiosk, der mit den Zeitungen von gestern ausgeschlagen war. Jeden Tag Schockfotos. Der Kioskbesitzer, ein alt gewordener Türke, lächelte schief, wir kauften Wassereis. Über seiner aufschiebbaren Tiefkühltruhe, unter unzähligen Musikmagazinen, hing ein Bild von Sigmund Freud.

Später saßen wir auf der Terrasse des Panoramacafés. Die Wolken, die Waffen, der Rauch, die Flugzeuge hatten sich verzogen. Alles schien friedlich. Ich schaute Loretta ins Gesicht und begann, eine eiskalte Geschichte zu erzählen, die davon handelte, wie ich einer verdrehten Göre ausweichen musste. Mir fielen die Narben ein und die Kindheit im Schnee: Die Göre schmiss sich auf die Rodelbahn, mir vor den Schlitten. Dem Kind konnte ich ausweichen, dem Baum dann nicht. Manchmal frage ich mich, ob das Kind auch so hart gewesen wäre wie der Stamm, in dem nichts geritzt stand außer den Anweisungen für die Anästhesie.

Ein Nachmittag im Hafen von Rostock, mit Blick auf die schwappenden Oberflächen. Wir Kraniche. Loretta hatte etwas Mitleid im Blick, zog dann mit dem Kajalstift nach. In dem Moment, in dem ich den Impuls empfand, sie zu küssen, schwebte eine Gewitterfliege durch mein Sichtfeld. Wir küssten dann nicht.

Stattdessen schauten wir in die Tiefen unserer Lungen. Und flüsterten uns was von Produktfamilien ins Ohr. Die Nacht verbrachten wir auf einem Boot, schwankend und unsicher.

RENÉ HAMANN