Sie nannten ihn Blutgerinsel

Popmusik kann Leben retten: Für John Joseph ist das zum Glück wahr. Von seiner finsteren Kindheit und späteren Drogen erzählt der ehemalige Sänger der Hardcorepunkband Cro-Mags in einem Buch, das er heute im Kato vorstellt

„Krieg der Sterne“? – eine Komödie, „Rocky“? – Komödie, „Der Exorzist“? – klar, auch. Als Komödien hat John Joseph jedenfalls diese Filmklassiker wahrgenommen, als er in den Siebzigerjahren die Kinos rund um den New Yorker Times Square frequentierte und die Kommentare der anderen, vor allem afro-amerikanischen Besucher, für ihn elementarer wurden als die Handlungen der Filme selbst.

Eigentlich ging Joseph eh nur ins Kino, um zu schlafen. Wenn in den großen Sälen kein Platz war, wich er in die Pornokinos auf der 42. Straße aus und döste zum Stöhnen von der Leinwand, eine Rasierklinge in der Manteltasche. Ende der Siebziger lebte Joseph als drogenabhängiger Jugendlicher auf der Straße, seine Jagdgründe waren Rockaway Beach, ein Stadtteil von Brooklyn. New York war damals noch nicht die luxussanierte Metropole, die aus Luftschutzgründen von US-Kampfjets patrouilliert wird, sondern ein riesiger, teilweise rechtsfreier Müllhaufen, auf dem Joseph und seine schattigen Freunde jede Menge krimineller Energien entwickelten.

Dass der ehemalige Dealer und spätere Sänger der New Yorker Hardcorepunkband Cro-Mags dabei nicht draufgegangen ist, mag ein glücklicher Zufall sein. Das alte Sprichwort, wonach Popmusik Leben retten kann, trifft auf Joseph jedenfalls tatsächlich zu. Es war die afroamerikanische Hardcorepunkband Bad Brains, die ihn als Roadie anstellte und dazu ermutigte, selbst das Mikrofon zu ergreifen. Man muss das Steinzeitgeklopfe der Cro-Mags nicht mögen, Josephs Selbstbehauptungswillen ist dennoch eindrucksvoll.

Das beweist auch sein vergangenes Jahr erschienenes Buch „The Evolution of a Cro-Magnon“, aus dem er heute Abend im Kato vorliest. Darin schildert Joseph ausführlich seine Kindheit und Jugend in New York. Es ist ein Buch, randvoll mit haarsträubenden Geschichten über Gewalt in der Familie, Drogenexzesse und Aufenthalte im Knast. „The Evolution of a Cro-Magnon“ ist eine Punkbiografie, die meilenweit von den medialen Inszenierungen der Punk-Originale entfernt ist, dennoch äußerst lesenswert und leider noch nicht ins Deutsche übersetzt.

Cro-Magnons gelten als Vorfahren des Homo Sapiens, vor circa 25 000 Jahren durchstreiften sie als Jäger und Sammler die Natur. John Joseph und seine beiden Brüder Eugene und Frank sind von Kindesbeinen in Pflegefamilien aufgewachsen. Der leibliche Vater verprügelte und vergewaltigte die Mutter. In den Pflegefamilien waren physische und psychische Gewalt an der Tagesordnung. Bei einer Familie mussten die drei Brüder in einem Verschlag neben der Hundehütte im Garten hausen, durften nicht im Haus duschen und bekamen keine geregelten Mahlzeiten. Also fingen die Kinder an, sich auf dem Weg zur Schule in Tankstellentoiletten zu säubern und Essen zu klauen.

Erst nach Jahren griff das überforderte Jugendamt ein und brachte ihn und seine Brüder anderswo unter. „Schreiben ist für mich eine Form von Therapie“, gesteht John Joseph an einer Stelle. „Ich werde den Moment nicht vergessen, an dem ich, der tätowierte Cro-Mag-Straßenköter, mit meiner Vergangenheit abschließen konnte.“

Auf die Tränendrüse drückt er hingegen nicht. Er schreibt sich seine Vergangenheit zwar von der Seele, aber erzählt dabei auch, wie produktiv die Zeiten als Dealer und Obdachloser auf der „Universität der Straße“ waren. Seine Tätowierungen, seine Muskelspiele und seine Hau-drauf-und-Schluss-Punksprache sind dagegen nur Schutzhüllen. Drinnen kommt ein unsicherer und paranoider Typ zum Vorschein. Ein Loner, der auf der Suche nach Liebe ist. Die Mischung sei „eine tickende Zeitbombe“, wie es eine Psychologin einmal beurteilte.

Punkrock schlug in den USA eigentlich erst so richtig mit Kurt Cobain und Nirvana ein, Ende der Achtzigerjahre. Da hatte sich die Band von John Joseph bereits aufgelöst. Die Cro-Mags genossen einen zweifelhaften Ruf. Nicht wenige warfen ihnen seinerzeit Posertum vor. Niemand wusste, dass John Joseph wirklich von der Straße kam. Und er selbst war Punk, ohne es zu wissen. 1977 versorgte er als kleiner Straßendealer Rockkonzertbesucher vor dem Madison Square Garden mit gefälschten LSD-Trips oder verkaufte Angel Dust vor dem Vergnügungspark in Conney Island. Joseph erhielt damals den Spitznamen Blutgerinsel.

Statt dem Downtown-Punk-Boheme-Leben zu frönen, musste John Joseph 1978 für 18 Monate hinter Gitter, wegen mehrerer im Zusammenhang mit seiner Drogenkarriere begangener Straftaten. Danach versuchte er sich aus diesem Umfeld zu lösen und ließ sich von der US-Navy rekrutieren. „The Evolution of a Cro-Mag“ ist eine beispiellose Aneinanderreihung solcher Abhängigkeiten. Natürlich desertierte John Joseph auch vom Militär. Durch die Bad Brains kam er zunächst mit dem Rastafarianismus in Berührung, dann machten ihn die Bandmitglieder auf die Sekte der Hare Krishnas aufmerksam, deren Ideen er noch heute anhängt. Für sie schlüpfte er sogar ins Nikolauskostüm, setzte sich in einen Rollstuhl und sammelte Geld.

„Viele Leute behaupten, sie hätten Straßenkredibilität“, schreibt Adam Yauch von den Beastie Boys, zum Geleit für John Josephs Buch, „Blutgerinsel hat die Scheiße wirklich durchlebt.“

JULIAN WEBER

John Joseph: „The Evolution of a Cro-Magnon“. New York, Punkhouse Publishing 2007, 428 Seiten. Joseph liest heute Abend im Kato, U-Bahn Schlesisches Tor, 22 Uhr