Gefährliche Ferien

Weil ihre Familie sie nach Afghanistan brachte, fehlte Morsal O. ein Jahr in der Schule. Danach wies ihre Schule sie ab. Laut einer Hamburger Studie sind Zwangsverheiratungen keine Ausnahme

von KAIJA KUTTER

Die von ihrem Bruder ermordete 16-jährige Morsal O. blieb ein ganzes Jahr lang ihrer Schule fern, weil die Familie sie nach Afghanistan geschickt hatte. Das teilte die Bildungsbehörde mit, die den Fall gemeinsam mit den beteiligten Behörden für Soziales und Inneres aufarbeitet. „Wir sind dabei zu gucken, ob alles getan wurde, was getan werden musste“, sagt Sprecherin Annegret Witt-Barthel. Auch wenn alles formal richtig gelaufen sei, werde man prüfen, was man künftig verbessern kann.

Die SPD-Abgeordneten Thomas Böwer und Carola Veit fragen in einer schriftlichen Anfrage an den Senat, wie es sein kann, dass ein schulpflichtiges Kind einfach für ein Jahr ins Ausland verschwindet. Denn die Schulpflicht gilt in Deutschland bis zum 18. Lebensjahr. Laut Schulbehörde ist das juristisch unproblematisch. „Es herrscht in Deutschland Freizügigkeit“, erklärt Witt-Barthel. „Niemand kann Eltern hindern, mit ihrem Kind ins Ausland zu gehen.“ Die Frage sei nur, wie ein Kind später den Wiedereinstieg findet.

Der wurde auch für Morsal, die die Schule Ernst-Henning-Weg in Bergedorf besuchte, zum Problem. Ursprünglich sei sie eine gute Schülerin mit Zweien und Dreien gewesen, heißt es. Sie habe aber mit Beginn der Pubertät Schwierigkeiten bekommen, so dass die Schulleiterin ihr im Januar 2007 schließlich mitteilte, sie müsse ein Jahr wiederholen. Bald nach dem Gespräch meldete der Vater seine Tochter telefonisch von der Schule ab und sagte, die Familie würde für ein Jahr nach Afghanistan gehen.

Er habe dies getan, damit Morsal „Abstand zu den Problemen“ bekomme und „Sitten und Gebräuche des Landes kennen lernt“, erklärte der Vater nach ihrem Tod im Fernsehen. Laut Berichten von Freundinnen war Morsal aber überrascht, dass ihre Familie sie in Afghanistan zurückließ und blieb nicht freiwillig. Vor ihrem Tod hatte Morsal bei der Polizei ausgesagt, der Familienclan habe dort sogar eine Zwangsheirat geplant, zu der es aber nicht kam.

Erst ein Jahr später, im Januar 2008, erschien Morsal wieder in ihrer Schule, und fragte, ob sie dort ihren Abschluss machen könne. „Die Schulleiterin erklärte ihr, sie sei zu alt und riet ihr, sich ans Schulinformationszentrum zu wenden“, berichtet Witt-Barthel. Dort habe man Morsal geraten, an der Gewerbeschule H 18 am Berliner Tor ein Berufsvorbereitungsjahr zu belegen. Was das Mädchen auch für ein paar Wochen tat, bevor die Lage zu Hause eskalierte.

Thomas Böwer ist erstaunt über den Vorgang. „Wie kann es sein, dass ein Vater seine Tochter einfach ohne ein Stück Papier am Telefon von der Schule abmeldet?“, fragt der Jugendpolitiker. „Offenbar wurde es toleriert, weil es sich um eine Afghanin handelt.“ Dabei sei bei einer drohenden Verschleppung ins Ausland das Kindeswohl gefährdet. Böwer: „In dem Augenblick, in dem sich die Frage einer drohenden Zwangsheirat auftut, muss das Jugendamt prüfen, ob es den Eltern zum Schutz des Kindes das Sorgerecht entzieht.“

Eine Lehre aus dem Fall Morsal könnte sein, beim Schulbesuch junger Frauen künftig genauer hinzusehen. Denn Zwangsverheiratungen während der Ferien im Ausland sind keine Seltenheit. Das geht aus einer Befragung hervor, die die Lawaetz-Stiftung im Auftrag der Sozialbehörde für das Jahr 2005 unter Beratungsstellen durchführte. Demnach gab es allein in jenem Jahr 210 Beratungsfälle, in denen eine Zwangsheirat drohte oder erfolgt war. In jedem sechsten Fall waren es Mädchen unter 18 Jahren, in 42 Fällen ging es um eine so genannte „Ferienverheiratung“ im Heimatland.