berliner szenen Loretta und ich

Auf der Strandkirmes

Das Meer beugte sich, man konnte die Krümmung sehen. Wir standen jetzt am Rande der Strandkirmes, des alltäglichen Jahrmarkts, Loretta und ich. Ihr Konzeptgesicht schaute leer über die sanft wogenden Wellen, dann über die Verbudung der Welt. Indignierte Mächte, Touristensyndrom, Dreharbeiten: Ein Haufen Zwanzigjähriger in 70er-Jahre-Bademode verkaufte Chips für die Fahrgeschäfte. Bunte Tabletten, Modekritik, Strickmustervorlagen, und hinter der Identität saß die Stagnation?

Wir standen unschlüssig herum, der Hut eines Kirmesmusikanten lag nach oben offen, eine obszöne Geste. Dass Leute einem immer so nahe kommen müssen. Dass man immer Grenzen setzen muss, dachte ich im Gedränge. Nina knöpfte sich den Hosenladen auf, aber das war nur ein Tagtraum, ein Zwischenbild, ich hielt mich an Loretta, sie zeigte ein Sekundenlächeln, dann gingen wir Hand in Hand durch die Schleusen. Sie war plötzlich so heiter und unbeschwert, als ob sie schwimmen würde. Im Wasser wird alles ganz leicht.

Beim Anblick eines Freifallturms dachte ich dann, ich müsste mehr über Männer schreiben, die Entfernungen neu ausmessen, alles tiefer und weiter legen. Männer auf Schwalben, auf Wespen, in der Achterbahn, auf Vertikalfahrten. Kirmesmusik, Zahnschmelze, Zuckerwatte. Die wedelnden Haarschöpfe auf der Schiffsschaukel. Davor eine Frau mit albernem Sonnenkäppi, die Werbebroschüren für Yogakurse verteilte: DAS ENDE DER SCHLAPPHEIT. Das Käppi sah wie ein weißer Stahlhelm aus. Ein 40-jähriger Mann mit Piratentuch nahm uns die Chips ab. Neben dem Kettenkarussell stand eine Nebelmaschine, hellblaue Schwaden, schöne Diffusion, und der Nachhall des Gekreischs. Wir lagen im Pegel. RENÉ HAMANN