Kevins Ziehvater fehlen die Worte

Anderthalb Jahre wurde über ihn gesprochen, gestern brach der 43-jährige Bernd K. sein Schweigen und sagte erstmals selbst etwas über den Tod seines Sohns. Es tue ihm leid, sagte er, aber auch diese Formulierung sei „eine Art Verniedlichung“

AUS BREMEN EIKEN BRUHN

Ganz still wurde es im Schwurgerichtssaal des Bremer Landgerichts. Den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Stifte gezückt, erwarteten die Prozessbeobachter am Mittwoch den großen Moment: Bernd K., angeklagt wegen Totschlags am zweijährigen Sohn seiner verstorbenen Freundin, will etwas sagen. Eine Schlussbemerkung, bevor das Gericht in einer Woche das Urteil über ihn sprechen wird.

Der Richter erteilt ihm das Wort. Bernd K. nickt ihm von der Anklagebank zu, räuspert sich, hebt den Kopf – und guckt dann doch noch erst einmal auf das Blatt Papier, von dem er ein paar angestrengte Augenblicke später ablesen wird. „Ich finde bis heute nicht die richtigen Worte“, beginnt er, „um meine Fassungslosigkeit zu beschreiben und meine Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen.“ Er spricht leise und langsam, in ganzen Sätzen, die er auswendig zu kennen scheint, so flüssig kommen sie. „Wenn ich Ihnen sage, dass ich maßlos traurig bin, so ist das unzutreffend“, sagt er. „Und wenn ich sage, dass mir das mit Kevin erschreckend leid tut, dass ich über die Katastrophe erschüttert bin, dass meine Reue so drastisch ist und alles für mich sehr traumatisch ist, dann klingt das in meinem Fall wie eine Art Verniedlichung.“

Dann stockt er, sammelt sich wieder, setzt noch einmal an. „Ich würde mehr dazu sagen, aber ich kann nicht“, entschuldigt er sich, um dann doch weiter zu sprechen, jetzt ohne vom Blatt abzulesen. „Ich weiß nicht, was da passiert ist“, sagt er und dann noch etwas Unzusammenhängendes von Fernsehberichten, in denen er „Täter“ genannt werde und dann noch einmal: „Ich weiß nicht, was da passiert ist.“

Es ist das erste Mal, dass der 43-Jährige selbst etwas gesagt hat. Seit anderthalb Jahren wird über ihn gesprochen, seit im Oktober 2006 in seinem Kühlschrank Kevins Leiche gefunden wurde. „Der Ziehvater des kleinen Kevin“, hieß er stets, bei der Deutschen Presseagentur und in vielen Zeitungen. „Schauspieler“ nannten ihn Bremer Politiker im Untersuchungsausschuss, weil das für sie die günstigste Erklärung dafür war, dass das Jugendamt Kevin bei dem suchtkranken Mann ließ. Selbst mit ihm gesprochen hatte keiner von ihnen. Aber sie glaubten, ihn einschätzen zu können. „Junkies“, hieß es mehrfach, „sind gut darin, sich zu verstellen.“

Auch im Strafprozess redeten wieder andere über ihn. Zeugen beschrieben ihn als „aggressiv“ gegenüber Erwachsenen, andere – und das waren nicht wenige – als „liebevoll und fürsorglich“ gegenüber Kevin. Ein Psychiater schilderte Bernd K.s Lebenslauf: Wie er als 13-Jähriger anfing zu trinken, nachdem sich sein Vater vor seinen Augen mit einem Pflanzenschutzmittel vergiftet hatte, Ausbildungen angefangen und wieder abgebrochen hatte, von der Sucht loskam und dann wieder anfing.

Seine zwei Anwälte stellten gestern in ihrem Plädoyer noch einmal da, wie K. versucht hatte, sich ein „scheinbürgerliches Leben“ mit Kevins ebenfalls drogenabhängiger Mutter aufzubauen, was ihm zwischenzeitlich immer wieder gelang, aber nach dem Tod seiner Lebensgefährtin im November 2005 endgültig scheiterte. „Danach gab es einen rapiden Anstieg des Drogenkonsums“, so der Anwalt Thomas Becker. Er kennt seinen Mandanten schon länger, setzte sich nach Kevins Geburt dafür ein, dass er zu seinen Eltern kommt und nicht in eine Pflegefamilie oder ein Heim.

Irgendwann im Sommer 2006, zwischen April und August, so haben es die Rechtsmediziner datiert, „ist es zum Tod von Kevin gekommen“, stellt Becker fest. Aber wann genau und wie, das habe die Beweisaufnahme nicht klären können. Als wahrscheinlichste Todesursache hatten die Experten eine Fettembolie genannt, verursacht durch einen Bruch des linken Oberschenkelknochens. Dabei soll Knochenmark ausgetreten und in den Blutkreislauf gelangt sein, Kevin starb nach diesem Szenario an einem Herzstillstand – sehr wahrscheinlich unter enormen Schmerzen. Dass Bernd K. für diesen und andere Brüche an Kevins Körper verantwortlich ist, mag auch der Anwalt nicht mehr ganz von der Hand weisen, nachdem er lange eine Knochenkrankheit als Alternative eingebracht hatte. Doch eine Tötungsabsicht, wie sie vergangene Woche der Staatsanwalt unterstellte, lasse sich durch nichts belegen, führt Becker aus. „Er konnte nicht wissen, dass ein Knochenbruch zum Tod führt“, erwidert er. Auch ein Totschlag durch Unterlassen lasse sich nicht beweisen. „Wegen seines Drogenkonsums konnte er nicht erkennen, dass Kevin sterben wird.“ Und während der Staatsanwalt in dem unklaren Geschehen Mordmerkmale sehen wollte, plädierte der Verteidiger auf Körperverletzung – „maximal Körperverletzung mit Todesfolge.“