berliner szenen Bessere Welt Basso (2)

Spitze Dinge

Zu sehen, wie die Klinge durch den Augapfel fährt, lässt niemanden unberührt, am allerwenigsten das zusehende Auge. Buñuels Szene ist zwar wegen dieses Angriffs auf den Wahrnehmungsapparat eine Ikone geworden, aber den ursprünglich vorkulturellen Horror vor spitzen Dingen sollte man nicht unterschätzen. „Einer Freundin von mir“, erzählt mir G. im Basso, „ist beim Renovieren eine Nadel ins Auge gefallen. Sie war aber geistesgegenwärtig genug, sie nicht rauszuziehen, sondern ist mit dem Auto und der Nadel im Auge ins nächste Krankenhaus gefahren.“

Ich bin nicht geistesgegenwärtig genug, um gleich zu verstehen, was die Pointe ist: Hätte die Frau ihrem ersten Impuls nachgegeben, dann hätte das Loch im Auge einen Druckabfall verursacht, der vermutlich irreparabel gewesen wäre. Eine Nadel im Auge über Landstraßen zu chauffieren, beweist also, dass Mut allein nicht weiterbringt. Kühl die Situation zu analysieren, das ist auch außergewöhnlich smart.

Smart fand ich schon immer sexy, und das kommt G. zugute, die während des Erzählens eine strahlende Aura zu bekommen scheint. Vielleicht ist es auch nur der Kontrast zwischen der braunen Haut ihrer Arme und Beine und den dort wachsenden feinen blonden Härchen, der den Effekt hervorruft. Ihre eigene Angst vor spitzen Gegenständen übersteige das Normalmaß weit, sagt G. jetzt: „Ich hatte als kleines Kind eine Tränenkanalstenose.“ Eine was? „Eine Verengung des Tränenkanals.“ Über mehrere Wochen habe ihr ein Arzt immer wieder eine Kanüle ins Auge gesteckt, um den Kanal zu weiten. Wer danach nicht nur weiterlebt, sondern auch noch erwachsen wird, Geld verdient und Kinder großzieht, verdient allen Respekt. Ich glaub, ich hol mir noch ein Bier. ULRICH GUTMAIR