Erlösung in der Hölle

Vergebung wird ja sowieso überschätzt: Eine „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“-Geschichte im London der Gegenwart – Jonny Glynns erschreckend brutales Debüt „Sieben Tage“

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Peter Crumb ist am Ende. Vor einigen Jahren ist seine seinerzeit fünfjährige Tochter Opfer eines grausamen Verbrechens geworden. Danach scheiterte Crumbs Ehe, er verlor seinen Job und landete, so darf man vermuten, in der Psychiatrie. Nun haust er in einem dreckigen Loch irgendwo in London, sozial unauffällig, aber derangiert. Manchmal steht er an seiner Wohnungstür und beobachtet durch den Spion die polnische Putzfrau im Flur. Währenddessen onaniert er. Wie gesagt: Peter Crumb ist am Ende. Und: Peter Crumb ist verrückt geworden. Schwere Schizophrenie, so würde man wohl diagnostizieren.

Ein Ich und ein Er hausen in ihm, dem Wiedergänger von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Ich ist ein verzweifelter Mensch, der nach Versöhnung mit der Welt lechzt. Er hingegen ist schlicht und einfach böse, brutal, bestialisch; ein Racheengel, der unerkannt mitten in der Gesellschaft steht und zu allem fähig ist. Jonny Glynns Romandebüt, in England als Debüt des Jahres 2007 gefeiert, ist ein in jeder Hinsicht schwer auszuhaltendes Buch, das – und das ist eine ernsthafte Warnung! – nichts für zarte Gemüter ist. Sieben Tage hat Peter Crumb sich noch Zeit gegeben: „In sieben Tagen bin ich tot, aber sieben Tage lang werde ich frei sein. Ich werde die Freiheit haben, mein Potenzial als menschliches Wesen oder Mann auszuleben, ganz egal, wie wunderbar oder furchtbar die Form auch sein mag, die diese Freiheit annimmt …“

Man bekommt als Leser früh eine Ahnung, dass die Freiheit des Peter Crumb eher eine furchtbare sein wird; wie Jonny Glynn seinen düsteren Protagonisten in die siebentägige Hölle schickt, ist allerdings wiederum wunderbar und erschreckend zugleich.

Angst, Hass und Sehnsucht schwelen zu gleichen Teilen in diesem Mann und erzeugen Allmachts- und Erlöserfantasien, durchbrochen von Depressionsschüben. Seine Biografie wird Stück für Stück, in Rückblenden und kurzen Gedankensplittern rekonstruiert; zu retten ist hier nichts mehr: „Und dann erinnerte ich mich an den Tag, an dem ich einen Graben abgesucht hatte, und an den feuchten Geruch … Ich erinnerte mich an ihre verstreuten Körperteile, verstümmelt, gefoltert, zerhackt … Und ich erinnerte mich an die Qual, die Wut und die Trauer.“ Gemeinsam mit der Putzfrau verbrennt er im Innenhof die Überreste seines geordneten Lebens.

Crumb tötet, scheinbar wahllos, scheinbar Unschuldige. So genau weiß man das ja nie, und er schon gar nicht. Das Nachbarehepaar muss dran glauben, ebenso eine junge pakistanische Kioskverkäuferin. Jonny Glynn erzählt davon mit äußerster Präzision und mitleidlosem Blick: „Adrian starb ziemlich schnell, übertrieb die Sache aber maßlos. Ich hatte seine Drosselvene durchtrennt, und er verlor Unmengen an Blut. Es dauerte nur Minuten, aber er machte aus jeder Sekunde ein Drama – hustete und spuckte und … ganz ehrlich, ich hatte den Eindruck, als wollte er einen scheiß Oscar bekommen!“ Man könnte Szenen dieser Art fast komisch finden.

Anders als bei Bret Easton Ellis’ High-Society-Monstern, an die man bei alledem durchaus zunächst denken könnte, tötet Peter Crumb nicht aus Ennui, sondern aus einer inneren Notwendigkeit heraus, die im Verlauf des Romans geradezu plausibel wird. Denn Crumb ist nicht dumm; das macht ihn umso gefährlicher. Andererseits ist er auch nicht gerade vorsichtig – ob er entdeckt wird oder nicht, ist ihm relativ gleichgültig. Er will ja ohnehin Schluss machen. Das Erinnern, so gibt er in einem fiktiven Zeitungsfragebogen-Interview mit sich selbst zu Protokoll, sei seine lästigste Angewohnheit; die am stärksten überschätzte Tugend hingegen sei die Vergebung. Crumb kann nicht vergeben, nicht der Welt, nicht sich selbst. „Ich schmore in der Hölle“, stöhnt er, und aus der gibt es bekanntlich keinen Ausweg mehr.

„Sieben Tage“ ist, gegen allen ersten Anschein, kein reißerischer Schocker, sondern vielmehr ein bei aller Gewalttätigkeit erstaunlich subtiles Buch. Es gibt sogar kurze Momente, in denen ein letzter Funke von Hoffnung und Normalität aufscheint, doch die vergehen in Schicksalsergebenheit. Auf geradezu auffällige Weise fehlt Jonny Glynns Roman jede Form von moralischem Korrektiv, das Crumbs Perspektive zurechtrücken oder relativieren könnte. Ebendarum ist „Sieben Tage“ eine ebenso faszinierende wie verwirrende Lektüre.

„Viva Crumb“ heißt es ganz zum Schluss. Besser nicht.

Jonny Glynn: „Sieben Tage“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, 264 Seiten, 18,90 Euro