Eine Faust verschwindet

Senat schreibt Antwort auf Anfrage zum Leidensweg von Morsal O. radikal um. Auch die neue Version darf SPD aus Datenschutzgründen nicht veröffentlichen. Dabei haben die Medien längst alle Details

VON KAIJA KUTTER

Seit dem Mord an der 16-jährigen Morsal O. vergeht kein Tag, an dem der Fall nicht den Politikbetrieb beschäftigt. Gestern gab es Wirbel um eine Antwort auf eine Anfrage der SPD, die „Hintergründe des Tötungsdelikts“ erfahren wollte. Ein Entwurf dafür wurde am Dienstag von der grün geführten Justizbehörde im Senat vorgelegt, aber nicht beschlossen. Aus Kreisen der Bürgerschaft war zu hören, dass die CDU-geführte Innenbehörde das Papier aus Datenschutzgründen umschreiben ließ.

Der taz liegt sowohl der Entwurf als auch die neue Fassung vor. Dabei drängt sich der Eindruck auf, dass es nur darum ging, ein weniger drastisches Bild zu zeigen. Was vergebliche Mühe gewesen sein dürfte, weil der Entwurf durch eine undichte Stelle an die Medien geriet und unter anderem von der Bild-Zeitung als „Akte der Schande“ ausgeschlachtet wurde.

Wichtige neue Erkenntnis des Senatspapiers ist, dass Morsal schon seit spätestens November 2006 in einer bedrohlichen Lage war. „Morsal gehörte schon längst an einem sicheren Ort untergebracht“, sagt der SPD-Abgeordnete Bülent Ciftlik, der die Anfrage mit verfasst hatte.

Das Mädchen wurde schon als 14-Jährige nicht nur vom älteren Bruder, sondern von Eltern und anderen Geschwistern geprügelt. Und: der Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) war nah dran am dem Drama, das sich in den letzten Tagen ihres Lebens ereignete. So soll Morsal sich laut Entwurfspapier am 11. Mai mit einem Bettlaken aus ihrem Zimmerfenster abgeseilt haben, um vor Schlägen und Tritten ihres Vater zu flüchten. Unten am Boden soll ihr 13-jähriger Bruder sie festgehalten und gewürgt haben. Mit Prellungen und einem abgebrochenen Schneidezahn wurde sie beim KJND eingeliefert, aber nur für drei Tage dort behalten.

„Das Mädchen war entlassen worden und sollte sich zu ihren Eltern begeben. Dann soll der Vater dem späteren Opfer sein Knie in den Magen gestoßen haben, worauf M.O. geflüchtet war“, heißt es ungeschminkt im Entwurf. In der neuen Version wird die KJND-Entlassung nicht erwähnt. Es heißt nur: „Am 14. Mai 2008 soll M.O. erneut von ihrem Vater tätlich angegriffen worden sein.“

Alle weiteren Übergriffe werden so geschildert, dass sie weniger berühren. Aus einem „Faustschlag ins Gesicht“ wird ein „Schlag“, aus „ausgerissenen Haaren“ wird „an den Haaren gezogen“. Aus „Schlägen mit einem Kabel“, die die Mutter im Februar 2007 Morsal zugefügt haben soll, werden einfach „Schläge“.

Auch die Ermittlungsbehörden stehen in der neuen Fassung besser da. So zeigte Morsal ihre Mutter wegen der Sache mit dem Kabel an, erschien aber nicht zur Zeugenvernehmung. Im Entwurf heißt es selbstkritisch: „wobei die Ladung an die Erziehungsberechtigten gerichtet war“. In der neuen Fassung fehlt der Satz. An anderer Stelle wird deutlich, dass von einer Aussage Morsals gegen ihre Eltern im November 2006 bis zur Einleitung eines Verfahrens im Februar 2007 viel Zeit verstrich. In der neuen Fassung ermittelt die Staatsanwaltschaft von Anfang an.

Auch das Verhalten des Opfers wird anders dargestellt. Im Entwurf wird Morsal damit zitiert, dass sie keine Bestrafung ihrer Familienangehörigen wünsche, da es ihr „allein um die Beendigung der Schläge gehe“. In der neuen Version heißt es nur, das Opfer wollte keine Bestrafung. Der Wunsch nach Schutz wurde dem „Datenschutz“ geopfert.

„Der Senat mauert und vertuscht“, sagt Bülent Ciftlik. „Es ist doch merkwürdig, wenn ausgerechnet die Justizbehörde, die sich mit Datenschutz auskennen müsste, dagegen verstoßen soll.“

Die zweite Version der Drucksache 19/385 erhielt die SPD am Donnerstag. Veröffentlichen darf sie sie nicht. Die Bürgerschaftskanzlei lässt noch einmal prüfen. Aus „datenschutzrechtlichen Gründen“, wie es heißt.