Klassenfahrt ist nicht

„Nur geduldet“ zeigt den schizophrenen Alltag junger Flüchtlinge in Deutschland (Sa., 18.05 Uhr, Arte)

Schätzungsweise rund 10.000 Flüchtlingskinder ohne Eltern leben zurzeit in Deutschland. Angst und Ungewissheit lassen sie aber auch hier nicht los. Denn spätestens, wenn sie 16 Jahre alt geworden sind, droht ihnen die Abschiebung zurück in ihre Heimatländer. Was das heißt und was sich dahinter verbirgt, das zeigt die Dokumentation „Nur geduldet: Flüchtlingskinder in Deutschland“

Zwei Jahre lang haben die Autoren Natascha Breuers und Ralf Jesse sechs Kinder und Jugendliche mit der Kamera begleitet. Herausgekommen ist ein Stück ambitioniertes Fernsehen, das Widersprüche in einer Gesellschaft aufzeigt, die sich gerne mit dem Etikett „human“ schmückt. Da sind zum Beispiel die Geschwister aus Angola: Eduine, Celso und Neves sind zwischen neun und 13 Jahre alt, als sie allein in Deutschland stranden. Das Jugendamt übernimmt sofort die Betreuung, während parallel die Suche nach den Eltern gestartet wird. Würden sie gefunden, müssten die drei, die nun in einem Kinderheim leben, sofort zurück nach Angola. Aber die Suche bleibt erfolglos. So fügen sich die Kinder Stück für Stück in ihr neues Leben ein. Ob dieses Leben Zukunft hat, bleibt offen. Werden sie 16 Jahre alt, wird vom Ausländeramt die erste Aufforderung ergehen, Deutschland zu verlassen.

Das haben die 16-jährige Nora und ihre 18-jährige Schwester Otilya aus dem Kongo schon hinter sich. Zwar sind sie bereits seit vier Jahren in Deutschland, doch ihr Antrag auf politisches Asyl wurde bereits in letzter Instanz abgelehnt. Als sie Abitur machten, lebten sie in der Angst, von einem Tag auf den anderen abgeschoben zu werden. Nachdem sie jetzt einen Ausbildungsplatz haben, dürfen sie zumindest noch für diese Zeit in Deutschland bleiben. „Das größte Problem für diese Menschen ist die Rechtsunsicherheit, in der sie sich befinden“, heißt es treffend im Film.

Denn sie werden zwar betreut, ja sogar integriert. Aber andererseits wird ihnen auch immer wieder klargemacht, dass sie irgendwann wieder gehen müssen. Und so lässt man Kinder, die bereits einmal einen extremen Bruch in ihrem Leben erlebt haben, in der Angst aufwachsen, dasselbe noch einmal erleben zu müssen, wenn sie „verfahrensmündig“ werden. „Das widerspricht zu hundert Prozent Sinn, Geist und Zweck der Kinderrechtskonvention, an der Deutschland doch so maßgeblich mitgearbeitet hat“, sagt Filmautor Jesse, der in der gängigen Praxis auch einen Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen sieht. Denn nach deutschem Ausländerrecht gelten Jugendliche, die von Ländern außerhalb der Europäischen Union einreisen, mit 16 Jahren als voll verfahrensfähig. „Wir haben Fälle erlebt, in denen Jugendliche schon im Alter von 15 Jahren in Abschiebehaft gekommen sind“, sagt auch Breuers. Zudem seien die Rechte der jungen Flüchtlinge extrem eingeschränkt. Sie werden bereits straffällig, wenn sie ihren Wohnort verlassen. Klassenfahrten oder weiter entfernte Ausflüge beispielsweise sind so oft schlicht unmöglich.

Bund und Länder, so vermuten die beiden Dokumentarfilmer, wollen das geltende Ausländerrecht nicht ändern, weil sie einen Ansturm elternloser Flüchtlingskinder aus aller Welt befürchten. „Doch diese Ängste sind unbegründet, denn die meisten Kinder schaffen es sowieso gar nicht erst hierhin“, sagt Jesse. WILFRIED URBE