Melancholie des Erinnerns

Monteverdi erschreiten: In ihrer Arbeit „camera orfeo“ verdichtete Penelope Wehrli die zentrale Arie aus der Oper „L’Orfeo“ am Samstag im Radialsystem zu einer Meditation über Verlust und Erinnerung

VON TIM CASPAR BOEHME

Eine androgyne Gestalt schreitet auf den Betrachter zu, wendet sich, kommt zurück, wendet sich erneut. Wieder und wieder. Die Bewegungen bleiben gleich, allein das Kostüm wechselt. Ist es ein Mann oder eine Frau? Genauer gesagt: Ist es Orpheus oder Eurydike?

In Penelope Wehrlis Arbeit „camera orfeo“, einer „Raumpartitur“, wird die zentrale Arie aus Claudio Monteverdis Barock-Oper „L’orfeo“, „Possente Spirto“, von der Performerin und Bühnenbildnerin mit Videoloops kombiniert. Die Bewegungssequenz wird zweifach auf durchscheinende Spiegel projiziert, die sich mitsamt Projektoren auf Schienen im Raum bewegen. Eine weitere Spiegelfläche dreht sich um die eigene Achse und punktiert den Bildrhythmus. Die Besucher der Installation, die am vergangenen Samstag im Radialsystem uraufgeführt wurde, können im Raum umhergehen, wer will, kann auf einem tragbaren Klappstuhl Platz nehmen. Um wen zu sehen?

Zur Erinnerung: Im Mythos von Orpheus und Eurydike wird die Geburt der Musik aus dem Geist des Verlusts erzählt. Orpheus kann den Tod seiner geliebten Eurydike nicht akzeptieren und dringt mit Hilfe seines Gesangs bis in den Hades vor, um die Verstorbene zurück ins Leben zu holen. Er darf Eurydike schließlich mit sich nehmen, doch nur unter der Bedingung, dass er ihr vorausgeht und sich unter keinen Umständen umdreht. Als er in einem unsicheren Moment den Kopf nach ihr wendet, verliert er sie für immer.

In Wehrlis Arbeit ist der Mythos musikalisch und bildlich auf zwei entscheidende Momente reduziert: Orpheus’ Gesang vor Charon und den verhängnisvollen Blick zurück. In seiner Arie bittet Orfeo den Fährmann Charon, er möge ihn in den Hades vorlassen. Sein Gesang rührt selbst den Hadeswächter. Die Arie wird in einzelne Sequenzen zerlegt, ihre Reihenfolge entsteht durch Zufall. Zwischen die Gesangspartien eingeschoben, spielen Einzelinstrumente, die über Lautsprecher verteilt im Raum erklingen, manchmal hört man die Stimme Orfeos a cappella, mit außerweltlicher Zerbrechlichkeit gesungen von der Performerin Rickie Eden.

Im Bild wird, so scheint es, Orpheus’ Blick nach Eurydike perpetuiert, die Gestalt in den Spiegeln wird ebenfalls von Eden verkörpert. So entsteht eine Ambivalenz, die Frage „Wer blickt?“ ist nicht eindeutig zu beantworten. Der Hades wird dabei in einer Anspielung auf Jean Cocteaus Film „Orphée“ inszeniert: Der Weg ins Reich des Todes führt bei ihm durch den Spiegel.

Ein zentraler Gedanke in Wehrlis Arbeit ist die Erinnerung an das Verlorene, aus der heraus das Verlorene neu geschaffen werden kann: „Orfeo muss sich umdrehen, damit er Euridice immer wieder neu erfinden kann.“ Im Bild sieht man daher sowohl den sich wendenden Orpheus als auch die immer wieder neu erfundene Eurydike, die mal im blauen Anzug, mal mit Fuchspelz in Erscheinung tritt. In der Musik ist es die Zufallssteuerung der einzelnen Elemente, mit der die Arie neu erfunden wird. Auf diesen Zufall hat das Publikum entscheidenden Einfluss: Die Bewegungen der Zuschauer, von unsichtbaren Kameras verfolgt, bestimmen, welche Abschnitte der Arie wann aktiviert werden. Die Auswahl der Bildsequenzen folgt demselben Prinzip.

Die Musik entsteht bei Orpheus als Ausdruck der Trauer über den Verlust Eurydikes. Mit seinem Gesang hält er an der verlorenen Geliebten fest, die er mit der Musik in Erinnerung behält und zugleich neu erfindet. Diesem Festhalten entspricht strukturell die Streckung der zerlegten Arie ins nahezu Unendliche, die Installation hält gewissermaßen an der Musik fest. Damit illustriert sie aufs Schönste den Orpheusmythos als Metapher für Melancholie, gekennzeichnet durch das Festhalten an Verlorenem.

Ein „poetisches zirkuläres System“ nennt Wehrli ihre Orfeo-Interpretation. Durchbrochen wird die Geschlossenheit des Systems durch regelmäßige Projektionen der Kamerabilder, in denen man seine eigenen Bewegungen an der Stirnwand des Raums nachverfolgen kann. Zusätzlich werden Außengeräusche in den Innenraum übertragen. Trotz der mehr als voraussetzungsreichen Konzeption erscheint die Installation nicht hermetisch. Unabhängig davon, ob sich jede einzelne Anspielung dechiffrieren lässt, wirkt die Arbeit ruhig und konzentriert, sogar meditativ. Die Musik erscheint in ihrer Fragmentierung nie unvollständig, sondern bewegt sich wie ein akustisches Mobile im Raum, das sich unendlich fortsetzen könnte, ohne zu ermüden. Nach anderthalb Stunden ist von anfänglich hundert Zuschauern noch die knappe Hälfte im Raum, manche legen sich auf den Boden, schließen die Augen. Nach zwei Stunden gehen die letzten Besucher. Lang geworden ist die Zeit darüber nicht.

Weitere Aufführungen: 3. bis 7. Juni, 20 Uhr, Radialsystem