Blut, Scheiß und Tränen

Es geht kaum dümmlicher. Charme hat es trotzdem, wir sind ja in Wien. Seit diesem Frühjahr führen Sisi und Mozart durch die Innenstadt, per Audioguide: „Wollen wir nicht etwas promenieren, Majestät?“ – „Einverstanden, Herr Musikus!“ Rund drei Stunden ist man unterwegs, hört man sich jedes Kapitel brav an. Wolfgang Amadeus Mozart flirtet dabei ganz hübsch mit der Kaiserin, gibt den Kichernden, leicht Überdrehten, der sich ein bisserl verknallt hat.

Die zwei führen zur Staatsoper, zur Hofburg, zum Stephansdom und erzählen nebenher allerlei Gschichtln, von der Haarpflege der Kaiserin bis zur selektiven Bestattungsform der Habsburger (die Körper in der Kapuzinergruft, die Eingeweide im Stephansdom, die Herzen in der Augustinerkirche). Auf dem Display sind Bilder des historischen Wien zu sehen, und es gibt Information zu Öffnungszeiten oder zur Kaffeehauskultur.

Richtig deppat wird’s beim Museumsquartier, den einstigen Hofstallungen. Dort ist heute auch das Museum Moderner Kunst. „Auch Werke des Wiener Aktionismus gibt es hier zu sehen“, erklärt Mozart. „Oje“, sagt Sisi, „waren das die, die so wild mit Blut herumgeschüttet haben?“ – „Ich fürchte ja, Majestät.“

Die gute alte Zeit also, die schöne k. u. k Stadt. Umso erstaunlicher, dass einem auf dem Heldenplatz plötzlich Hitlers Rede von 1938 („… melde ich den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“) entgegenschallt. Bevor die Kaiserin aber erklärend ausholen kann – es bleibt bei: 65.000 österreichische Juden „verloren“ ihr Leben, ein Fünftel Wiens zerstört, vier Besatzungsmächte, 1955 unabhängig –, stoppt Mozart sie freundlich, aber bestimmt: „Genug Geschichte. Genießen wie doch die Aussicht.“

Und lieber doch noch was zum kaiserlichen Haar zu erzählen, bevor sich die zwei verabschieden: „An Ihrer Seite durch Wien zu spazieren, war ein Genuss, Majestät.“ – „Jetzt, wo wir allein sind, nennen Sie mich doch einfach Sisi!“ CHRISTINE ZEINER

Achtundsechzig in Wien war bloß eine Kunst-, Avantgarde- und Boheme-Revolte. Man zeigte den Arsch in den Institutionen und sang wunderschöne Lieder dazu. War denn anderswo mehr?

VON ROBERT MISIK

Revolutionäre müssen immer irgendetwas stürmen, das gehört sich so in einer ordentlichen Revolution. Bastille, Winterpalais, was auch immer. In Wien wollten sie 1968 das Burgtheater stürmen. Vielleicht ist das nur konsequent angesichts des Theatralischen jeder Revolte. Jedenfalls ist es sehr wienerisch. „Die Pluhar hat uns damals die Pläne des Burgtheaters besorgt, damit wir uns einschleichen können. Man gab einen Hochhuth, und der Wussow stand auf der Bühne. Wir wollten hinauf und dort ein Manifest verlesen“, erzählt André Heller, der damals schon ein Impresario war. Aber aus dem Sturm auf das Burgtheater wurde dann irgendwie nichts, weil der Ossi Wiener, ein legendärer Aktionskünstler, den Sturm vorher vollmundig durch ein Megafon angekündigt hat – das hat leider auch die Polizei gehört.

Jener Ossi Wiener, der danach, um einer Haftstrafe zu entgehen, ins „Exil“ nach Berlin ging, dessen bleibendstes Vermächtnis kulinarischer Natur ist – die Kreuzberger Kneipe gleichen Namens am Paul-Lincke-Ufer. Und Tochter Sarah kocht auf allen Kanälen. Aber das ist schon das Ende der Geschichte.

Diese Geschichte ist in Österreich Kunst-Geschichte. „Der barocke Zug der Theatralität war das besondere Kennzeichen der 68er-Bewegung in Österreich“, meint der Historiker Ernst Hanisch. Die Chiffre „Achtundsechzig“ ist in Österreich mehr als sonst wo mit Kunst verbunden. Die Revolte in Wien war, wie das Magazin Profil schreibt, „anders als jene in Berlin oder Paris keine dezidiert politische, sondern vor allem eine der wilden Kunst und seltsamen Allianzen“. Hauptakteure waren die Wiener Aktionisten, das Land wurde kulturell entlüftet, wozu nicht zuletzt auch modernistische Konservative ihren Beitrag leisteten. Oder exzentrische Progressive. Achtundsechzig war hier eher: Lebensgefühl, Pop und Avantgarde. Stones. Kerouac. Handke.

Aber es war auch eine Radikalität unter den Bedingungen der Normalität. Bei Protestdemonstrationen gab es keine wilden Laufketten von Langhaarigen, auf den Fotos der Straßenaktionen des Wiener Achtundsechzig sind vornehmlich brav gescheitelte Burschen mit Anzug und Krawatte zu sehen, die ordentlich demonstrieren.

Günther Nenning, Jahrgang 1921, öffnete den jungen Rebellen die Seiten seines Neuen Forums – jener Zeitschrift, die von Friedrich Torberg in den Fünfzigerjahren mithilfe der CIA gegründet worden war. Gerd Bacher, ein knorriger, aber kultivierter Reaktionär, hatte die Führung des öffentlich-rechtlichen ORF übernommen, das Fernsehen modernisiert und das Radio revolutioniert. „Wann immer man aufdreht, säuselt einem ein germanischer Schwachsinniger in die Ohren“, schrieb Bacher in einem Dekret und befahl scharf, das müsse sich ändern. Roy Black raus, Frank Zappa rein. André Heller wurde zum Star des neuen Vollzeit-Popsenders Ö3, machte die legendäre „Musicbox“, ein avanciertes Text-Sound-Format, mit dem Generationen denken und hören lernten. Abends saß man dann im Hawelka rum und fühlte sich als Boheme. Helmut Qualtinger („Herr Karl“) war stets dabei, und der Elias Canetti schaute auch gelegentlich vorbei. Chansonnier Heller brachte 68 seine erste LP heraus, mit dem lakonischen Titel „Nr. 1“.

Wenn Robert Schindel in Sichtweite kam, verdrückten sich die Freunde in die Hauseingänge – garantiert würde er einen nötigen, sich wieder eines seiner Gedichte anzuhören. „Die Wiener Studentenbewegung war poetischer, sie war gemildert durch Schlamperei, wie das hier ja üblich ist. Es war uns alles nicht so ganz ernst wie den Deutschen“, sagt Schindel. Das hat ihn freilich nicht daran gehindert, die „Kommune Wien“ zu gründen und danach ein bedeutender Führer der hiesigen Maoisten und Fürsprecher Pol Pots zu werden. Schindel später: „Wir haben aus Mangel an Gelegenheit keinen erschossen.“ Gefühlte hundert Jahre später hatte Schindel mit seinem Roman „Gebürtig“ den literarischen Durchbruch.

Zentral verbunden ist das Wiener Achtundsechzig freilich mit der Kunstströmung des „Wiener Aktionismus“, die von der Happening- und Fluxusbewegung inspiriert war, aber diese auch selbst beeinflusste – irgendwie sind da Geistespartikel zwischen Wien und Greenwich Village hin und her geflogen. Die Aktionisten hatten schon die gesamten Sechzigerjahre auf sich aufmerksam gemacht. So hatte der Aktionist Günter Bus 1965 seinen „Wiener Spaziergang“, bei dem er am ganzen Körper weiß bemalt durch die Innenstadt ging. Eine schwarze, wie eine Narbe vom Schädel bis zum Schuh verlaufende Linie scheint den Körper zu spalten.

„Ich wollte vom Heldenplatz bis zum Stephansdom gehen, doch schon in der Bräunerstraße wurde ich aufgehalten. Man hat mich gewarnt, das gebe entweder Irrenhaus oder Gefängnis. Die Aktion war freilich von Nervosität begleitet, trotzdem hatte ich ein sehr gutes Gefühl. Ich wusste, ich mache Kunstgeschichte.“ Der Polizist, der Brus aufgehalten hatte, vermerkte in der Anzeige: „Sie haben, indem Sie mit weißer Farbe bemalt waren, ein Verhalten gesetzt, welches geeignet war, Ärgernis zu erregen, und bei den Passanten auch tatsächlich erregt hat, wodurch die Ordnung an einem öffentlichen Orte gestört war.“ Das Strafmaß: 80 Schilling.

Es wird körperbetont, etwa in den Aktionen von Otto Mühl und Hermann Nitsch. Kot ist im Spiel. Allerlei Körperflüssigkeiten. Blut. Die Künstlerin Valie Export führt den Kunsttheoretiker Peter Weibel Gassi – er hat eine Leine um den Hals und geht auf allen vieren.

Das Schlüsseldatum des Wiener 1968 ist nicht im Mai, sondern im Juni. Im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien ist für den 7. Juni ein Teach-in angesetzt: „Kunst und Revolution“. Offizielle Veranstalter sind die kommunistischen Sozialistischen Österreichischen Studenten. Aber eigentlich steht ein „Körperanalyse“-Happening der Aktionisten auf dem Programm. Valie Export schaltet das Mikrofon ein, Peter Weibel hält einen Vortrag, Ossi Wiener redet über Sprachtheorie. Günter Brus schneidet sich mit einer Rasierklinge in Brust und Schenkel, trinkt seinen Urin, beschmiert sich mit Kot. Dann beginnt er am Katheder zu onanieren und singt dazu die Bundeshymne. Ein späterer ORF-Redakteur lässt sich als Masochist auspeitschen. Gemeinschaftlich wird weitgepinkelt. Mühl misst, wer gewonnen hat. Es stinkt.

Unter die Studenten hatte sich auch Michael Jeannée gemischt, damals wie heute Inbegriff des Revolverjournalisten. Der heutige Reporter der Kronen Zeitung war damals für das Boulevardblatt Express unterwegs und machte eine große Story über die „Stoffwechselparty“ der „Sex-Kommunisten“. Wien hatte, woran die Stadt immer schon und stets ihre größte Freude hatte: einen großen Kunstskandal. Schlagzeilen. Der Polizeipräsident schaltet sich ein.

Als „Uniferkelei“ geht die Aktion in die österreichische Nachkriegsgeschichte ein. Zwei Monate später werden die „Verbrecher“ vor Gericht gestellt, Mühl erhält ein paar Wochen, Brus sechs Monate unbedingte Haft. Er setzt sich nach Berlin ab. Wiener folgt 1969, weil ihm eine Verurteilung wegen Gotteslästerung winkte. Es gibt Verfolgungsdruck, und die politischeren Achtundsechziger, die etwa in die Sozialdemokratie hineinwirken oder die Arbeiterklasse wachkitzeln wollten, waren politisch delegitimiert – schließlich waren sie nun mit „den Verrückten“ identifiziert, allesamt als „Kakademiker“ verschrien, die am Katheder auf die Flagge scheißen. Was das Proletariat ja nicht so richtig gut fand. Die „Politischen“ waren deshalb auch ein bisschen sauer auf die Künstler. Dieter Schrage, später selbst Leiter des Museums des 20. Jahrhunderts, verließ die Aktion schon vorzeitig und sagte im Abgehen: „Mit diesen bürgerlichen Chaoten kann man keine Revolution machen.“ Was er heute so kommentiert: „Das nimmt mir der Brus bis jetzt übel. Vielleicht zu Recht.“

Längst sind fast alle aufgenommen ins Pantheon. Wiener erhielt 1989 den Staatspreis für Literatur, Ehrendoktor in Klagenfurt ist er auch. Brus bekommt 1997 den Großen Staatspreis für bildende Kunst, sieht das da aber schon als „nichts Sensationelles“ an, sondern „als selbstverständlich“. Heller ist der global aktive Entertainer-Impresario, stets unter Kitschverdacht, dem die hochkulturellen Weihen versagt blieben, was ihn bisweilen traurig macht. Valie Export ist auf den internationalen Kunstmärkten eine fixe Größe. Schrage hat das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst im Schrank. Hermann Nitsch hat sogar ein eigenes Museum – in Mistelbach.

Vom „Täter“ zum Staatspreisträger. Nur Mühl strauchelt. Er gründet die „Kommune Friedrichshof“, der er als autoritärer Diktator vorsteht. Bei jungen Mädchen nimmt er sich das Recht der ersten Nacht heraus. Dafür wird er 1991 wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Richtig feministisch geht es freilich nirgendwo zu in der Kunstszene. „Die Künstler waren furchtbare Machos – die Befreiung der Frau hat die überhaupt nicht interessiert. Die brauchten Musen, die nach Möglichkeit auch gut kochen sollten“, sagt Susanne Widl, damals Model, heute Betreiberin des Cafés Korb. Erika Pluhar war mit Udo Proksch verheiratet, der später die Republik erschütterte, weil er die Lucona versenkte – ein Versicherungsbetrug, den sechs Matrosen nicht überlebten. Dann tat sie sich mit Heller zusammen, der später wiederum mit Gertraud Jesserer … Nichts Aufregendes, keine „Befreiung durch Orgasmus“: serielle Monogamie in den Grenzen des Gewohnten.

Österreichs Achtundsechziger sahen sich stets als etwas zu kurz gekommen an. Keinen Aufstand hatten sie zustande gebracht, sondern nur Kunstzeug. Aber was, wenn sie damit die eigentliche Avantgarde waren? Die politischen Utopien hatten sich ohnehin nur gnadenlos blamiert, und der Marsch durch die Institutionen führte in die strenge Kammer der enttäuschten Hoffnungen. Vierzig Jahre nach 68 ist der letzte Ort der Utopie die Kunst. Vielleicht hat man das in Wien bloß früher gespürt.

ROBERT MISIK, 42 Jahre, lebt als Publizist in Wien