Alles selbst genäht

Auf dem Hamburger Heiligengeistfeld steigt zur EM die größte Fußballparty Norddeutschlands. Alte Dame mit Fahne bekleidet. Beim Spiel gegen Tschechien sind türkische Fans kaum zu halten

VON CHRISTIAN GÖRTZEN

Ein sattes Rot mit etwas Weiß und noch nicht Schwarz-Rot-Gold bestimmen das Bild. „Türkiye, Türkiye“, hallt es bereits mehr als eine Stunde vor dem Beginn des Eröffnungsspiels der Fußball-Europameisterschaft, in dem die Schweiz auf Tschechien trifft, über das Hamburger Heiligengeistfeld. Dort wird bis zum Endspiel am 29. Juni jede EM-Partie aus den Gastgeberländern Schweiz und Österreich auf einer 60 Quadratmeter großen Leinwand übertragen. Das Fan-Fest unter dem Motto „Heimspiel Hamburg“ gilt als die größte öffentliche Fußballparty zur EM 2008 in Deutschland.

Vor zwei Jahren hatten die Fan-Feste in vielen deutschen Städten einen großen Anteil daran, dass sich die WM im eigenen Land zum „Sommermärchen“ entwickelte. Der Begriff „Fanmeile“ wurde sogar zum Wort des Jahres gewählt. Jetzt soll es eine Neuauflage geben.

Okay, 40.000 Zuschauer wie vor zwei Jahren sind am Sonnabend noch nicht auf das Heiligengeistfeld gepilgert. Aber es sind gleich am ersten Tag weitaus mehr geworden als vor zwei Jahren bei den Spielen Mexiko gegen Angola oder Tunesien gegen Saudi-Arabien. 25.000 Freundinnen und Freunde des gepflegten Passspiels und des gewitzten Flankenwechsels sind es nach den Angaben des Veranstalters geworden. Akustisch dominiert die Türkei, und das schon beim Eröffnungsspiel zwischen der Schweiz und Tschechien.

Während sich beide Teams auf der Großbildleinwand ein zähes Duell liefern und Tschechien letztlich 1 : 0 gewinnt, stehen die breitschultrigen Ordner gleich zum Auftakt der EM vor einer Bewährungsprobe. Immer wieder gelingt es den türkischen Fans, über die Absperrung auf die Tribüne zu klettern, die zwangsläufig bald überfüllt ist.

Zweimal muss eine Sicherheitskraft mit dem Aussehen einer Bulldogge und einer offensichtlichen Kenntnis im Umgang mit Anabolika die türkischen Fans von den Treppenstufen wieder hinter die Absperrung vertreiben. Einfluss auf die Vorfreude hat das aber nicht. „Die Stimmung hier ist knallrot“, sagt der 20 Jahre alte Hasan Ardek Husein Carft aus Hamburg. „Wir gewinnen nachher 2 : 1, und dann wird auf jeden Fall auf dem Kiez gefeiert.“

Geradezu traumhaft findet Margrit Nau aus Hamburg, die mit ihren 70 Jahren vermutlich die älteste Besucherin ist, die Atmosphäre auf dem Heiligengeistfeld. Die Rentnerin trägt lässig einen schwarz-rot-goldenen Rock und passend dazu eine Handtasche in der identischen Farbkombination. „Alles selbst genäht“, sagt sie.

Seit der WM 1974, die Gastgeber Deutschland damals gewann, sei sie ein Fußball-Fan. Und das mit enormer Leidenschaft. „Ich finde es so schön, dass es wieder so ist wie vor zwei Jahren. Damals war ich fast an jedem Tag auf dem Fan-Fest, also etwa 27-mal“, sagt Margrit Nau. Auf den Beginn der EM hat sie lange hingefiebert, nicht erst seit einigen Wochen oder Monaten. „Ich habe mich schon nach dem Endspiel der WM 2006 auf die EM gefreut. Und auch jetzt freue ich mich schon auf die WM 2010 in Südafrika.“

Wie schon bei der WM 2006, ist auf dem Fan-Fest jedes Teilnehmerland mit einem eigenen Zelt vertreten. Über die eine oder andere Merkwürdigkeit auf dem Fan-Fest schaut Margrit Nau mit der Nachsicht einer älteren Dame hinweg. Dass es am kroatischen Zelt Currywurst mit Pommes gibt, lässt den Besucher stutzen. Dass der Grieche nebenan flugs mal die Holsteiner Rostbratwurst zur landestypischen Köstlichkeit gemacht hat, ist ein Beitrag zur guten Laune.

Die Türkei wird in Genf nicht den Erwartungen ihrer Fans in Hamburg gerecht. Gegen Portugal verliert sie 0 : 2. Zwei genauso betrunkene wie schlichte Neo-Nazis stehen mitten auf dem großen Areal, lachen und feixen anlässlich der türkischen Niederlage. Sie finden noch zwei dumpfe Mitgröler aus dem Umfeld und rufen den enttäuscht abziehenden türkischen Besuchern hämisch hinterher, dass sie schnell nach Hause gehen sollten. Auch das ist ein Teil des Fan-Festes.