Vier-Finger-Iker

Mit exzentrischem Handschuh und sagenhaften Paraden ist Spaniens Torwart Casillas der Rückhalt seines Teams

Spanien, das seit 16 Spielen ungeschlagen ist, stehen seine genesenen Stürmer Fernando Torres und David Villa zur Verfügung und damit ein Turnierstart in Bestbesetzung in Aussicht. Wohingegen Russland in der Offensive in Not ist. Denn Superstar Arshawin ist für die ersten beiden Gruppenspiele gesperrt, und Pogrebnjak ist verletzt abgereist. Guus Hiddink hat für den Angreifer mit Iwanow erstaunlicherweise einen Defensivmann nachnominiert.Spanien: Casillas – Sergio Ramos, Marchena, Puyol, Capdevila – Iniesta, Senna, Xavi, David Silva – Torres, Villa Russland: Akinfejew – Anjukow, Schirokow, Kolodin, Schirkow – Semak, Syrjanow, Semschow, Bystrow, Biljaletdinow – Pawljutschenko Anstoß: Dienstag, 18 Uhr (ARD)

NEUSTIFT taz ■ Wie viele Torhüter, die ihre Handschuhe lieben, zieht sie Iker Casillas zum Autogrammschreiben nicht aus. Der Filzstift, mit dem er im spanischen EM-Quartier Fotos unterschreibt, liegt wie ein Streichholz in seinem gigantischen rechten Torwarthandschuh. Wer sich dicht herandrängt, kann auch den linken Handschuh studieren. Etwas fehlt. Ein Finger.

„Ich bin wie einer von den Simpsons“, sagt Casillas. Wie die Comicfiguren hat Casillas nur vier Finger, wenn er im Tor steht. Seit einem Monat spielt er mit einem Spezialhandschuh, bei dem Ring- und Mittelfinger zusammen in einer Fingertasche stecken. Bei der WM 2006 renkte sich Casillas den Ringfinger aus. Um ihn zu stützen, klebte er ihn mit Tapeverband an den Mittelfinger. Der Finger ist längst geheilt. „Aber ich habe mich so an die vereinten Finger gewöhnt, dass ich so weiterspielen will.“

Es ist ein wenig Exzentrik, die sich Casillas gestattet. Er ist 27, Kapitän und mit 75 Länderspielen der Veteran der Elf. Wenn Spanien heute in die EM startet, ist er die Versicherung, dass es schon gut gehen wird. Gegen den Zeitgeist will Spanien mit dem altmodischen Kurzpassspiel die EM gewinnen, das macht sie zur interessantesten, aber mit lauter körperlich schwachen Passmeistern im Mittelfeld auch zu einer verwundbaren Elf. „Doch du denkst immer: Iker wird schon alles halten“, sagt Xavi, der Mittelfeldhauptmann. „Und dann hält er alles.“

Casillas’ Klasse ist konstant sichtbar. Er ist bei dem recht unorthodox verteidigenden Real Madrid ständig im Rettereinsatz. In der Nationalelf geht es nicht so betriebsam zu, „aber glaube nicht, dass es mir deswegen langweilig wird“, sagt er. Seine vermeintliche Lockerheit lässt seine Paraden nur noch spektakulärer erscheinen: Er hat einen unfassbaren Absprung, und wenn er aus seiner sorglosen Haltung ohne Übergang losfliegt, muss man zwanghaft murmeln: „Qué bestia!“ Was für eine Bestie. Es ist das größte Kompliment, das die spanische Fußballsprache kennt.

Mit 16 ging Casillas erstmals mit Reals Profis auf Reisen, mit 19 war er schon die Nummer eins von gestern, Trainer Vicente del Bosque nahm ihn aus dem Tor. „Ich weinte, ich dachte, ich würde nie wieder für Real spielen.“ Da verletzte sich im Champions-League-Finale 2002 gegen Leverkusen der erste Torwart, Casillas kam ins Spiel und hielt den 2:1-Sieg mit seinen unmöglichen Paraden fest; einen Monat später verletzte sich Spaniens Nummer eins, Santiago Cañizares, und Casillas spielte die WM 2002.

Es regnet in Strömen beim Training. Plötzlich lachen alle, aber niemand mehr als Casillas. Wie für alle Torhüter, die ihre Handschuhe lieben, gehört dies auch für ihn zu den großartigsten Momenten: den Schuss mit einem sanften Plop in den Handschuhen zu begraben – während er mit großem Platsch in einer Pfütze landet. RONALD RENG