90 Minuten auf dem Campingplatz
: Ein Zeltplatz ohne Niederländer

Polen, Kanadier, Schotten sind da, nur sie fehlen: Oranjes-Suche auf der Tentstation Berlin

Es gibt scheinbar unumstößliche Wahrheiten in diesem Land. Jeder weiß, dass Niederländer in Wohnwagen deutsche Straßen und Capingplätze bevölkern. Jeder weiß, dass ihr Verhältnis zu Deutschen mehr von Hass denn von Nächstenliebe geprägt ist. Jeder glaubt es zu wissen.

Nur noch wenige Lichter erhellen an diesem Abend die Tentstation, ein Zeltplatz mitten in Berlin – da liegen sie sich bereits in den Armen: Holländer. Nein, politisch korrekt, die Niederländer. Oder korrekt und wahr: Niederländer des Herzens. Denn hier bejubeln nicht die Fans aus der Heimat des Goudas das gerade gefallene 1:0. Nein. Eine Gruppe junger Bayern applaudiert beim Treffer van Nistelrooys, ein Mann im Deutschlandtrikot brüllt: „Super, weiter so, Jungs!“

Und die Niederländer? Sie sind nicht zu sehen. Ausgerechnet auf dem Campingplatz – welch Widerlegung aller Klischees. Viele Sprachen sind zu hören, zahlreiche Landesfarben zu sehen. Zwei Jungs streiten auf türkisch um einen Plastikball. Mädchen im Teenageralter stellen ihre polnischen Schals zur Schau. Da springen die vornehmlich männlichen Fans schon wieder in die Höhe. 2:0. Glücklich bestellt ein Mann in orangefarbenem T-Shirt ein neues Bier. Orange? Endlich, ein campingaffiner Gast aus dem Benelux-Staat? Nein. Daniel Mesec ist Kanadier – und feuert trotzdem die Mannschaft von Marco van Basten an. Wo sich die Niederländer verstecken, weiß aber weder er noch Scott MacDonald. „Vielleicht sind die ja in Bern“, mutmaßt der Schotte hinter dem Tresen. Ein kleines Mädchen hat bei ihm gerade eine Cola bestellt. Auf ihrer Brust prangt ein weißes Kreuz, zeitgleich unterhält sich eine Familie auf Französisch. Alle sind sie da. Alle sind sie für die „Elftal“. Weil alle gegen Italien sind. So einfach ist das.

Nach 93 Minuten der Schlusspfiff. Auf der Straße, die am Campinggelände vorbeiführt, finden sich Autos zum Korso zusammen – laut hupend und bestückt mit deutschen Fähnchen. Und – tatsächlich – sind am Bahnhof schließlich auch Oranjes zu sehen. Echte Oranjes. Fast flüsternd erklären sie, wo sie mit der S-Bahn hinfahren: Nach Grune- wald, Westberlin. Dort stehe ihr Wohnmobil. Ein Grinsen in den Gesichtern der Deutschen gegenüber. Da ist es wieder. Das Spiel mit den Klischees, die freudige Erkenntnis: Manche Dinge ändern sich nie. SIMON WALTER