WARUM ANGELA MERKEL JETZT DIE BILDUNG ZUR CHEFSACHE ERKLÄRT
: Ablenkungsmanöver zur rechten Zeit

Geschichte wiederholt sich doch. Einige Jahre, nachdem der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder weiche Politikfelder wie Schule und Hochschule als „Gedöns“ abgetan hatte, erklärte er das Thema Bildung zur „sozialen Frage des 21. Jahrhunderts“. Zwei Jahre, nachdem Kanzlerin Angela Merkel und ihre zuständige Ministerin Annette Schavan im Zuge der Föderalismusreform auf die wenigen Kompetenzen verzichtet haben, die der Bund in der Bildungspolitik besaß, ruft Merkel nun die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus.

Damit entwendet Merkel der SPD, die nur noch ihr Verhältnis zur Linkspartei umzutreiben scheint, nach der Familien-, Integrations- und der Klimapolitik das letzte verbliebene Zukunftsthema. Der nationale Bildungsbericht, gestern vorgestellt, zeigt nachdrücklich, welcher Handlungsbedarf auf diesem lange vernachlässigten Feld herrscht: So hat etwa jeder zweite Hauptschüler mehr als ein Jahr nach dem Abschluss noch immer keinen Ausbildungsplatz ergattert.

Diesen Rückstand aufzuholen, wird doppelt schwer. Zum einen, weil der Bund spätestens seit der Föderalismusreform an die Länder nur noch Appelle richten, aber aus eigener Macht nichts mehr durchsetzen kann. Zum anderen, weil die CDU auch auf diesem Gebiet erst einmal liebgewonnene Überzeugungen über Bord werfen müsste – etwa ihre Vorliebe fürs dreigliedrige Schulsystem oder die langjährige Abneigung gegen die Ganztagsschule. Der Wandel ist allerdings längst im Gang. Ihren anfänglichen Widerstand gegen das noch von Rot-Grün aufgelegte Ganztagsschulprogramm haben die unionsregierten Länder längst aufgegeben, und im schwarz-grünen Hamburg verlängert ein CDU-Bürgermeister gerade die Schulzeit von vier auf sechs Jahre.

Man kann Merkels Initiative als Ablenkungsmanöver sehen, das den lähmenden Koalitionsstreit über die vermeintlich harten Wirtschafts- und Sozialthemen überdecken soll. Wenn es aber dazu führt, dass nach den rückwärtsgewandten Debatten über Nachbesserungen an den rot-grünen Reformen endlich über das wichtigste Thema der nächsten Jahre diskutiert wird, dann kommt diese Ablenkung gerade recht. RALPH BOLLMANN