Merkel wird Deutschlands Dekanin

Jetzt entdeckt auch die Kanzlerin die Bildung: Anlässlich des 60. Jahrestags der Währungsreform entwirft Merkel das Projekt der „Bildungsrepublik Deutschland“. Doch dahin ist es noch weit, wie der nationale Bildungsbericht zeigt

BERLIN taz ■ Es war eine Rede, die Angela Merkel lange vorbereitet hatte. Die gestrige Feierstunde zum 60. Jahrestag der Währungsreform 1948 wollte sie nutzen, um Grundsätzliches zur sozialen Marktwirtschaft zu sagen. Die jüngsten Unionsdebatten um Rentenaufschläge oder Steuersenkungen hatten es ja auch nahegelegt, das Verhältnis der Partei zu Reformen und Sozialstaat zu klären.

Herausgekommen ist dabei die „Bildungsrepublik Deutschland“. Merkel schlug sich am Donnerstag in der Aula des Berliner Wirtschaftsministeriums nicht einfach auf die Seite der Befürworter oder der Gegner weiterer Sozialreformen, sie suchte den Gegensatz vielmehr auf einer höheren Ebene aufzuheben wie zuvor auf SPD-Seite schon ihr brandenburgischer Landsmann Matthias Platzeck. Was bei Platzeck die „Chancengerechtigkeit“ war, heißt bei Merkel nun „Einstieg und Aufstieg“. Ein Bildungsreise „vom Kindergarten bis zur Seniorenfakultät“ will Merkel unternehmen, am 22. Oktober soll es gemeinsam mit den Ländern einen „nationalen Bildungsgipfel“ geben. „Bildung für alle“ sei „die zentrale Aufgabe des nächsten Jahrzehnts“.

Auch rhetorisch bediente sich Merkel im Arsenal des gegnerischen politischen Lagers, beim Präsidentschaftsbewerber der US-Demokraten. „Wir können es also schaffen“, paraphrasierte sie Barack Obamas „Yes, we can“. Überhaupt mühte sich Merkel um einen aufmunternden Ton. Anders als etwa in den Reformreden der Bundespräsidenten Roman Herzog oder Horst Köhler mied sie peinlichst jede Ankündigung neuer Einschnitte.

Mehr noch als an Obama nahm Merkel allerdings Maß an Ludwig Erhard, dessen Währungsreform ja den Anlass für ihren Auftritt bot. „Wie gut, dass Erhard die Nerven behielt. Wie gut, dass er ein klares Ziel vermitteln konnte, und wie gut, dass er das Steuer geradehielt, bis sich der Erfolg dann offenbart hat.“

Von der „neuen“ sozialen Marktwirtschaft, mit der sich Merkel im Reformeifer des Leipziger CDU-Parteitags 2003 von Erhard abgegrenzt hatte, war gestern allerdings keine Rede mehr. Zwar kanzelte sie die Steuersenkungswünsche der bayerischen CSU erneut ab und wandte sich gegen die SPD-Forderung nach einem Mindestlohn. Auf der anderen Seite ermahnte sie aber die „Vertreter der Wirtschaft“, dass „auch an der Spitze die Spielregeln des Gemeinwesens eingehalten werden“.

Der Bildungsministerin Annette Schavan (CDU), die im Kabinett schon zu einer Art Frühstücksdirektorin degradiert schien, steht nun viel Arbeit bevor. Kaum hatte sie den Auftritt der Kanzlerin beklatscht, da musste sie auch schon auf einer Pressekonferenz die mageren Ergebnisse des nationalen Bildungsberichts erläutern.

Dessen Autoren hatten Studien und Daten aus verschiedenen Bildungsbereichen nebeneinandergelegt. Besonders benachteiligt sind demnach Jugendliche mit Migrationshintergrund. Sie seien „deutschen Jugendlichen ein bis zwei Jahre hinterher beim Berufseinstieg“, sagte der Leiter des Autorenkollektivs, Eckhard Klieme, vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung.

Ausländische Jugendliche müssen sechsmal so lange wie deutsche auf einen Ausbildungsplatz warten. Jugendliche mit Hauptschulabschluss – diese kommen überwiegend aus sozial schwachen Familien – ergattern nur zu 40 Prozent einen Platz im dualen System. Gut die Hälfte von ihnen landet nach der Schule in Warteschleifen, die lediglich Zeit, aber keine Nachteile überbrücken. Die Ergebnisse zeigten eins: Bis zur „Bildungsrepublik Deutschland“ ist der Weg noch lang. RALPH BOLLMANN ANNA LEHMANN

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