Merkels dritter Weg

AUS BERLIN RALPH BOLLMANN

Es war eine Rede, die Angela Merkel lange vorbereitet hatte. Die gestrige Feierstunde zum sechzigsten Jahrestag der Währungsunion 1948 wollte sie nutzen, um Grundsätzliches zur sozialen Marktwirtschaft zu sagen. Schon vor zwei Monaten waren CDU-Veteranen von Kurt Biedenkopf bis Klaus Töpfer, von Norbert Blüm bis Lothar Spät im Kanzleramt zu Gast, um der Parteichefin Ratschläge zu erteilen. Auch die jüngsten Unionsdebatten um Rentenaufschläge oder Steuersenkungen legten es nahe, das Verhältnis der Partei zu Reformen und Sozialstaat zu klären.

Herausgekommen ist dabei die „Bildungsrepublik Deutschland“. Merkel schlug sich am Donnerstag in der Aula des Berliner Wirtschaftsministeriums nicht einfach auf die Seite der Befürworter oder der Gegner weiterer Sozialreformen, sie suchte den Gegensatz vielmehr auf einer höheren Ebene aufzuheben wie zuvor auf SPD-Seite schon ihr brandenburgischer Landsmann Matthias Platzeck. Was bei Platzeck die „Chancengerechtigkeit“ war, heißt bei Merkel nun „Einstieg und Aufstieg“. Ein Bildungsreise „vom Kindergarten bis zur Seniorenfakultät“ will Merkel unternehmen, am 22. Oktober soll es gemeinsam mit den Bundesländern einen „nationalen Bildungsgipfel“ geben. „Bildung für alle“ sei „die zentrale Aufgabe des nächsten Jahrzehnts“, das SANKT GALLENBildungssystem müsse „jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg“ ermöglichen.

Auch rhetorisch bediente sich Merkel im Arsenal des gegnerischen politischen Lagers, beim Präsidentschaftsbewerber der US-Demokraten. „Wir können es also schaffen“, paraphrasierte sie Barack Obamas „Yes, wie can“. Die Bilanz der vergangenen Jahre könne sich sehen lassen. Überhaupt mühte sich Merkel um einen emotionalen, aufmunternden Ton. Anders als etwa in den Reformreden der Bundespräsidenten Roman Herzog oder Horst Köhler mied sie peinlichst jede Ankündigung neuer Einschnitte, jede Kritik an bestehenden Verhältnissen, jedes Szenario über den drohenden Untergang der bundesdeutschen Gesellschaft. Weniger Arbeitslose, erfolgreiche Migranten im Fußball, Wirtschaftslokomotive Deutschlands: Nie redete die Kanzlerin über Probleme, allenfalls über „die Größe dieser Aufgabe, vor der wir stehen“.

Mehr noch als an Obama nahm Merkel allerdings Maß an Ludwig Erhard, dessen Währungsreform ja den Anlass für ihren Auftritt bot. „Wie gut, dass Erhard die Nerven behielt. Wie gut, dass er ein klares Ziel vermitteln konnte, und wie gut, dass er das Steuer geradehielt, bis sich der Erfolg dann offenbart hat“: Das klang nach einer Beschreibung, wie sich die Kanzlerin selbst gerne sähe.

Von der „neuen“ sozialen Marktwirtschaft, mit der sich Merkel im Reformeifer des Leipziger CDU-Parteitags 2003 von Erhard abgegrenzt hatte, war gestern allerdings keine Rede mehr. Zwar kanzelte sie die Steuersenkungswünsche der bayerischen CSU mit einem Bekenntnis zum ausgeglichenen Haushalt erneut ab und wandte sich gegen die SPD-Forderung nach einem flächendeckenden einheitlichen Mindestlohn. Auf der anderen Seite ermahnte sie aber die „Vertreter der Wirtschaft“, dass „auch an der Spitze die Spielregeln des Gemeinwesens eingehalten werden“.

Der Bildungsministerin Annette Schavan (CDU), die im Kabinett schon zu einer Art Frühstücksdirektorin degradiert schien, steht nun viel Arbeit bevor. Kaum hatte sie den Auftritt der Kanzlerin beklatscht, da musste sie auch schon auf einer Pressekonferenz die mageren Ergebnisse des nationalen Bildungsberichts zu erläutern (siehe unten). Gleich anschließend ging es ins Kanzleramt, wohin Merkel die Kultusminister der Länder eingeladen hatte. Dort steht der Bundesministerin nun viel Überzeugungsarbeit bevor. Eigene Machtmittel hat sie seit der vor zwei Jahren beschlossenen Föderalismusreform nicht mehr.

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