uli hannemann, liebling der massen
: Viel zu viele Ratten schauen Fußball

Im Biergarten „Heinz Minki“ dampft die Kacke. Ich wundere mich, weshalb es beim Public Viewing nicht ständig Schlägereien gibt. Schließlich ist es, als habe man zu Versuchszwecken viel zu viele Ratten in einen viel zu kleinen Käfig gepfercht. Für zweitausend Nager stehen gerade mal 500 Sitzplätze bereit. Diejenigen, die keinen Platz bekommen, laufen den anderen orientierungslos durchs Gesichtsfeld und machen sie auf diese Weise immer aggressiver. Zusätzlich wird der Stress unter den Versuchstieren noch künstlich durch diverse Experimente erhöht.

Zum Beispiel hat man ihnen einen Bierstand eingerichtet, der jedoch extra zu klein gehalten ist, um alle Ratten zügig zu versorgen. Da die meisten in einer Vorversuchsreihe von langer Hand gezielt alkoholsüchtig gemacht wurden, kommt es in der Schlange wiederholt zu entnervtem Quieken oder gar Beißereien. Obendrein gesellen die Forscher absichtlich genetisch veränderte, durch Fehlkonditionierung, Gehirnwäsche oder Stromschläge sozial unverträglich gemachte Mutanten zu den normalen Vergleichstieren, die überdies permanent mit unqualifiziertem Geschwätz beschallt und durch die unzureichenden Sichtverhältnisse auf die Spiele extrem gereizt und verängstigt werden.

So wird das Geschehen auf dem weit entfernten, winzigen Bildschirm während der vierstündigen Übertragung zweier EM-Spiele die meiste Zeit über von einem jungen Weibchen verdeckt. Die offenkundig erheblich verhaltensgestörte Testratte steht, obwohl sie einen Sitzplatz hat, immun gegen sämtliche Hinweise freundlicher und auch grober Natur, ungefähr zehnmal für jeweils geschlagene zehn Minuten auf, um sich mit Artgenossen auszutauschen, was ihr im Sitzen nicht möglich scheint. Vermutlich klemmt die Sitzhaltung auf den unbequemen Gartenstühlen die ohnehin schon ungewöhnlich reduzierten Nervenleitungen zwischen Gehirn und Sprechwerkzeugen ab. Auch bei unserem pathologisch asozialen Exemplar handelt es sich eindeutig um eine bedauernswerte Mutation, mit der die Verantwortlichen die Stressresistenz der gesunden Individuen testen wollen. Gewiss hat man die arme Kreatur auch taub und blind gemacht – es ist schlicht ein Verbrechen, was hier im Namen der Wissenschaft geschieht. Heimlich halte ich Ausschau, ob hinter dem Grillstand verborgen ein Mann in weißem Kittel seine Aufzeichnungen führt.

Fällt ein Tor, dann quieken die von jeder Fachkenntnis unbeleckten anthropoiden Gelegenheitsfußballnervsäckchen wie auf Kommando schrill auf. Hierbei handelt es sich um künstlich verändertes Balzverhalten. Das Freiluftlabor „Heinz Minki“ beweist: Anstatt, wie es in artgerechter Umgebung selbstverständlich wäre, einander im Privaten zu beschnuppern, degeneriert der Trieb unter dem Druck von Überpopulation, krankhafter Begeisterung und weiteren Stressfaktoren zum Public Viewing. „Ich mache alles mit, ich bin ein Kumpel, ich finde sogar Fußball toll“, wollen speziell die Weibchen vortäuschen, um die Männchen für sich zu gewinnen. Doch gerade die in Frage kommenden interessieren sich im Grunde selber nicht dafür, und das signalisierte Interesse verpufft in Übersprungshandlungen wie Bratwurstessen oder absurden Kommentaren. Letztlich ist alles nur ein riesiges, von einer unerkannt im Hintergrund ablaufenden Versuchsanordnung kanalisiertes Missverständnis.ULI HANNEMANN