hamburger szene
: Mein Schneider

Manchmal stehe ich daneben, wenn aufgebrachte Kunden meinen Schneider beschimpfen, weil die Hosen, Blusen, Röcke noch nicht fertig sind, wo er doch schon beim letzten Mal versprochen hat, und so fort. Er lässt sich dadurch nicht erschüttern. Sie kommen ja trotzdem wieder. Mein Schneider war früher Kellner und er muss sagenhafte Trinkgelder bekommen haben, denn er hat viel Charme.

Wenn keine tobenden Kunden dabei sind, sprechen wir über die Grundfragen des Lebens. Mein Schneider fragt sich, wozu mein Uniabschluss gut sein soll, wenn ich jetzt so wenig verdiene, er findet meine Trinkgelder beim Kellnern mickrig im Vergleich zu seinen damals. Mein Schneider erklärt mir, dass Zuverlässigkeit das Wichtigste bei einem Mann sei und dass es sich lohnen würde, wenn ich mich netter anzöge, weil Männer eben doch das Äußere in Betracht zögen. „Hallo meine Süße“, sagt mein Schneider und wenn ich ihm aufmunterungsbedürftig erscheine, bietet er mir erstaunlich schlecht schmeckenden Kaffee an.

Kürzlich war ich auf einem Flohmarkt in Altona, weil ich dort einen Händler zu finden hoffte, bei dem ich einmal einige Bilderrahmen und einen Taschenkalender von 1913 gekauft habe. Wenn ich ehrlich bin, brauche ich die Rahmen nicht, aber der Kalender ist sehr nett. Der Händler hat eine schöne Kommode mit ganz vielen Fächern. „Du hast kein Geld dafür“, höre ich eine Stimme hinter mir. Es ist mein Schneider.FRIEDERIKE GRÄFF