berliner szenen MyElend

Intimes im ICE

Sie sprechen laut. Hinter dem Zugfenster zieht die schimmernde Elbe vorbei. Auch hinter Stendal hören wir immer noch diesen Elendsbericht, mit monotoner Stimme vorgetragen von der einen, während die andere zuhört oder versucht, den Monolog zu unterbrechen durch Schilderungen ihres eigenen Schicksals. Dann reden immer beide Frauen einen Moment lang. Bei Wolfsburg hat die Dominante offenbar das Gröbste gesagt, die Frauen wechseln den Staffelstab.

Welche Medikamente konsumiert werden und wie viel der jeweiligen Sorte, die Listen sind lang, welche Nebenwirkungen auftreten, welche nicht, welche Eingriffe durchgeführt wurden, welche nicht. Von „meinem“ Hausarzt ist die Rede, „meinem“ Physiotherapeuten, diversen Fachärzten, von den Herren Professor Doktor. Die Frauen wurden irgendwohin geschickt, mit einer Behandlung wurde begonnen, etwas wurde veranlasst, jemand wollte sie sehen – alles Erleben ist passiv.

Die eine Frau hatte sich am Ostbahnhof auf den reservierten Platz der anderen gesetzt. Diese beanspruchte am Berliner Hauptbahnhof ihre Reservierung, man lernte sich kennen. Das einzige Thema kristallisierte sich unmittelbar heraus. Sie muten einander die intimsten Details zu. Hinter Hannover sind sie Jahre zurück in den Krankheitsverläufen. Auch von diversen Leiden und Gebrechen Bekannter und Verwandter ist jetzt die Rede. Bei Minden werden Empfehlungen ausgesprochen, neue Telefonnummern notiert für weitere ärztliche Konsultationen. In Osnabrück schließlich müssen die Frauen umsteigen. Sie wünschen einander gute Besserung und einen schönen Tag. Er ist ganz wunderbar wärmend, und wir hatten die Aussicht auf leuchtendes Gelb. GUNDA SCHWANTJE